Gegen alle Zeit
»Aber Mr. Hynd kann beruhigt sein, wir sind so gut wie weg. William und ich werden London verlassen und ein wenig Landluft schnuppern.«
»Kann ich mitkommen?«
Statt einer Antwort lachte Jack wie über einen guten Witz. Er wiegte den hübschen Kopf hin und her, als müsste er ernsthaft nachdenken, und sagte dann: »Was meinst du, Blueskin? Kann er m-mitkommen?«
»Nur als Leiche«, antwortete der, zog seinen Dolch aus dem Hosenbund und säuberte sich damit die Fingernägel.
»Nur als L-Leiche«, wiederholte Jack und zuckte bedauernd mit den Achseln.
»Aber wo soll ich hin?«, meinte Henry und sprang auf. »Die ganze Stadt jagt mich, vermutlich hängen längst Steckbriefe aus, ein Preis ist auf meinen Kopf ausgesetzt, und ich hab keinen Penny in der Tasche.«
»B-Bess wird sich schon um dich kümmern«, sagte Jack, stand ebenfalls auf und begann plötzlich, sich auszuziehen. Er verstaute Rock und Hemd in einem Beutel und ließ sich von William eine weitere Wollschürze und einen Blaukittel reichen. »Außerdem bist du ein hübscher B-Bursche, damit lässt sich in London immer G-Geld machen. Frag Mutter N-Needham.« Wieder lachte er lausbübisch, und die anderen stimmten belustigt ein.
»Was soll die Maskerade?«, wunderte sich Henry, als Jack in Kittel und Schürze vor ihm stand und eine abgegriffene Ledermütze aufsetzte.
»Williams Vater ist Schlachter«, erklärte George, der bis dahin schweigend neben dem geheimen Ausgang gestanden hatte und nun die Damast-Tapete anhob und die Kommode zur Seite rückte. »Am Clare Market.«
»Schnauze!«, brüllte Blueskin und warf den Dolch in Georges Richtung, der nur wenige Zoll neben dessen Biberfellmütze in der Wand stecken blieb.
»Lass g-gut sein, mein Freund«, sagte Jack und klopfte Blueskin auf die Schulter. »Bis bald, und bleib mir gewogen. Macht’s gut, ihr L-Lieben!« Damit verschwand er mit William in dem Mauerloch, und anschließend wurde die Kommode wieder an ihren Platz gerückt.
»Was soll ’n der Scheiß?«, maulte George, deutete auf den Dolch und sah Blueskin böse an. Doch aus seinem vermeintlich wütenden Blick sprach die schiere Angst.
»Halt’s Maul, Memme!«, knurrte Blueskin und zog den Dolch aus dem Holz.
Henry stand immer noch am Fenster und hob flehentlich die Arme, als könnte er das alles nicht fassen. Es war zum Verrücktwerden. Während Blueskin und George sich weiterhin lautstark beschimpften und Godfrey mit gezücktem Degen zur Unterstützung seines Bruders hereinkam, wandte sich Henry von dem unsinnigen und kindischen Geschehen ab und schaute hinunter auf die Straße. Direkt vor dem Black Lion Inn stand Edgworth Bess und schaute zum Erkerfenster hinauf. Als hätten sie sich verabredet.
Henry winkte ihr zu und deutete nach unten, um ihr zu verstehen zu geben, dass sie auf ihn warten sollte, doch im nächsten Augenblick spürte er Blueskins Hand auf seiner Schulter, und fast gleichzeitig rannte Bess davon, soweit das in ihrem langen, dunkelroten Samtkleid möglich war.
»Wenn du Geld brauchst«, sagte Blueskin und wartete, bis Henry sich ihm zugewandt hatte. Dann setzte er mit undurchdringlicher Miene hinzu: »Komm heute Abend nach Sonnenuntergang nach St. Giles. Dirty Lane. Gleich neben dem Blue Bell Inn. Vielleicht hab ich was für dich. Wenn du nicht auch ’ne Memme bist.«
Henry nickte, obwohl er gewiss nicht so dumm war, in diese allzu plumpe Falle zu tappen, und eilte grußlos nach unten. Als er auf der Straße war, bog das dunkelrote Samtkleid gerade rechts um die Ecke und verschwand in der Russel Street.
Ohne zu wissen, wieso, oder irgendeinem Plan zu folgen, lief Henry zur Straßenecke und schaute in die Richtung, in der Bess verschwunden war. Die Russel Street führte am Clare Market vorbei zu den Lincoln’s Inn Fields. Bereits gestern war er mit Bess diesen Weg gegangen, und da er vermutete, dass sie auf dem Weg nach Little Britain war, schlenderte er ebenfalls in östliche Richtung. Als er die Gärten von Lincoln’s Inn erreichte, war von Bess weit und breit nichts mehr zu sehen, dafür wurde sein Blick eher zufällig und doch wie magnetisch von einem Plakat angezogen, das gestern noch nicht hier gehangen hatte. Jedenfalls war es ihm nicht aufgefallen. Vor einem riesigen Torbogen auf der Südseite des Platzes stand eine Art Staffelei oder Holzbock, an dem ein Papier im A2-Format hing. Beinahe wie bei einem Flip-Chart. Auf dem Plakat wurde für ein Singspiel geworben, das am Abend in dem Theater hinter dem
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