Gegen alle Zeit
Augen lagen sehr nahe beieinander. Sie war offensichtlich ein Mädchen mit Downsyndrom.
»Hope?«, fragte Henry und stand mühsam auf. Seine rechte Pobacke war eingeschlafen und kribbelte.
»Ay!«, freute sie sich und kicherte. »Und du?«
»Was willst du hier?«, fauchte ihn da Blueskin an, der hinter seiner Schwester stand und die Laterne hielt. »Verschwinde, Ingram!«
»Du hast mich herbestellt, schon vergessen?«, meinte Henry, rieb sich den Hintern und bemühte sich, nicht zu lachen, als Hope ihn mit ihren dicken Fingern in die Seite puffte und immer wieder fragte: »Und du? Und du? Und du?«
»Hör auf damit!«, befahl Blueskin und hob die Hand, als wollte er sie schlagen.
Seine Schwester gehorchte aufs Wort und machte einen Schmollmund.
»Wild hat Bess geschnappt«, sagte Henry.
»So ein Pech«, erwiderte Blueskin grinsend und wandte sich zur Tür.
»Er hat sie in die Chick Lane gebracht.«
Das Grinsen verschwand aus Blueskins Gesicht. Wie schon Mutter Needham zuvor, so schien auch er ehrlich überrascht und fragte: »Warum?«
»Was hat es mit dieser verdammten Chick Lane auf sich?«, wollte Henry wissen.
»Nicht hier«, sagte Blueskin und schloss die Tür auf. »Lasst uns reingehen.«
Henry folgte den beiden ins Haus und betrat eine winzige Wohnstube, für die der Begriff Räuberhöhle eher zutreffend war. Auf engstem Raum stapelten sich unzählige Dinge, die vermutlich aus diversen Einbrüchen oder Raubzügen stammten und hier ohne erkennbare Ordnung abgelegt und gestapelt worden waren: Scheren, Tücher, Bücher, Gläser, Holzbecher, Bilderrahmen, Brillen, geräucherter Schinken, Dörrfisch, Bindfäden, Kerzenständer, Kleidungsstücke, Silberbesteck. Und überall Unschlittkerzen aus billigem Talg. Entsprechend roch es in dem Raum nach Ruß und Tierfett.
»Wohnst du auch hier?«, fragte er Blueskin.
»Ich wohne überall und nirgends.«
»Hm«, machte Henry ungeduldig. »Und was hat das alles zu bedeuten?«
»Das solltest du eigentlich am besten wissen, oder?«
»Joseph auch«, sagte Hope und sah ihren Bruder liebevoll und beinahe ehrfürchtig an. »Chick Lane.«
»Was meint sie damit?«, fragte Henry und deutete auf Hope. »›Joseph auch‹?«
Da Blueskin nur abfällig grinste und keinen Ton von sich gab, rief Henry wütend: »Was, zum Teufel, ist in der Chick Lane?«
»Wild’s House«, antwortete Blueskin und zündete einige Kerzen und eine irdene Öllampe auf dem Tisch an. »Sein heimliches Hauptquartier. Obwohl es so heimlich gar nicht ist, denn jeder weiß davon. Sogar die Konstabler, aber sie würden niemals auf die Idee kommen, es genauer unter die Lupe zu nehmen. Sie würden ohnehin nichts finden. Oder nur das, was sie finden sollen.«
»Und?«, wunderte sich Henry, während er neben Hope am Tisch Platz nahm und von ihr erneut mit ihren Stummelfingern traktiert wurde. »Was heißt das?«
Blueskin hob die Achseln und sagte: »Für Wilds Leute bedeutet das Haus einen sicheren Unterschlupf. Eine uneinnehmbare Trutzburg und Festung.« Er schob die Unterlippe vor und setzte schnaufend hinzu: »Für alle anderen bedeutet es Gefängnis, Folterkeller oder Friedhof. Ganz nach Belieben oder Anlass. Allerdings nur …«
Henry glaubte zu verstehen. »Allerdings nur, wenn aus ihnen etwas herauszuholen ist. Wenn es sich lohnt.«
Blueskin nickte, schüttelte dann ungläubig den Kopf und fragte: »Bist du sicher, dass er Bess in die Chick Lane gebracht hat? Warum sollte er das tun? Wenn er seine Belohnung kassieren will, dann bringt er sie in ein reguläres Gefängnis. Zum Newgate oder zum Wood Street Compter. Oder zum Friedensrichter.«
»Sie ist in der Chick Lane«, wiederholte Henry mit Nachdruck. Und zum zweiten Mal erzählte er von den Ereignissen des Nachmittags, und er registrierte, dass Blueskin beim Begriff »Hell and Fury« und bei der Erwähnung des Riesen in Menschengestalt zustimmend oder wissend nickte.
»Joseph auch«, brummte Hope, als Henry fertig war und Blueskin erwartungsvoll anschaute. »Auch in Chick Lane.« Sie stieß Henry verschwörerisch in die Seite und setzte hinzu: »Damals.«
»Halt’s Maul, Hope!«
Sie streckte ihm die Zunge raus und rümpfte die Nase.
»Warum wohnt deine Schwester nicht bei eurer Mutter?«, stellte Henry die Frage, die ihm schon die ganze Zeit durch den Kopf gegangen war.
»Sie hat bis vor Kurzem bei ihr gewohnt. Aber Hope verträgt keinen Gin.« Blueskin ließ zunächst nicht erkennen, ob seine Antwort ernst gemeint oder ein Scherz
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