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Gegen alle Zeit

Gegen alle Zeit

Titel: Gegen alle Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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länglich und gezackt, wie bei Schnittverletzungen.
    »Wer ist der Mann mit dem Schwert?«, wandte sich Henry an eine Frau, die sich zuvor beim Tuscheln und Gerüchteverbreiten auffallend hervorgetan hatte.
    Die Frau sah ihn an, als hätte er etwas sehr Dummes gefragt, und antwortete: »Mr. Jonathan Wild natürlich. Ihr seid noch nicht lange in London, was?«
    Da er nicht wusste, was er darauf antworten sollte, lächelte er verlegen, zuckte mit den Schultern und verließ langsam und unauffällig den Hof.

2

    Natürlich wusste Henry, dass viele Straßen im alten London sprechende Namen besaßen. In der Shoe Lane hatten die Schuster ihre Läden, in der Bread Street buken die Bäcker ihr Brot, in der Maiden Lane befanden sich die Hurenhäuser, und in der Cock, Cow oder Chick Lane wurde das Vieh zum Markt von Smithfield getrieben. Er hätte also beim Anblick der Dirty Lane eigentlich nicht überrascht sein dürfen, und doch verschlug es ihm die Sprache. Obwohl er vom berüchtigten Kirchspiel St. Giles-in-the-Fields schon manches gehört hatte, hätte er es niemals für möglich gehalten, dass sich so viel Dreck und Unrat auf so kleinem Raum anhäufen konnten. Tierische und menschliche Exkremente, faulende Essensreste, Bruchglas und Tonscherben, zerbrochene Möbel und Fetzen von Stoff oder Papier, alles lag achtlos in der Gosse oder türmte sich vor den Häusern. Ratten tummelten sich und huschten nicht davon, wenn man sich ihnen näherte. Die Dirty Lane war nichts anderes als eine bewohnte Müllhalde, und niemand schien sich an dem Anblick oder dem Gestank zu stören.
    Die kleine Sackgasse mit dem markanten Namen befand sich nördlich von Long Acre, unweit der Drury Lane, genau in der Gegend, in der vor sechzig Jahren die Große Pest ihren verheerenden Beutezug durch London gestartet hatte. Zu dumm, dass das Große Feuer ein Jahr später nicht bis nach St. Giles gereicht hatte, ging es Henry durch den Kopf, das hätte vielleicht einiges bereinigt und etliche Probleme von selbst gelöst. Vor allem die hygienischen.
    Henry hatte keine Mühe, die »Dreckige Gasse« zu finden, er musste nur seiner Nase folgen. Und auch das Blue Bell Inn stach ihm sofort ins Auge. Es war das einzige Gebäude in der Sackgasse, dessen Fenster nicht vernagelt waren und dessen Fassade nicht baufällig war. Außerdem war es aus Backstein und nicht wie die umstehenden Häuser aus Holz und Lehm errichtet. Statt eines Schildes hing eine Schiffsglocke über der Eingangstür, aber blaue Farbe konnte Henry darauf nicht erkennen.
    Es war inzwischen kurz vor Sonnenuntergang, und wie bei seiner gestrigen Ankunft in der Drury Lane wurde er von den herumlungernden und scheinbar beschäftigungslosen Bewohnern wie ein Eindringling und Störenfried beäugt. Als er sich an einen alten Mann wandte und nach Blueskin Blake fragte, bekam er als Antwort lediglich ein mürrisches Achselzucken. Auch ein kleines Mädchen, das wie apathisch in der Gosse hockte, schaute ihn nur blöde aus tief liegenden und blutunterlaufenen Augen an und grinste stumm. Bei genauerem Hinsehen konnte er den Eiter in ihren Augenwinkeln erkennen. Fortgeschrittene Bindehautentzündung, vermutete er.
    Schließlich fragte Henry einen jungen Kerl, der gut gelaunt und offensichtlich betrunken aus der Schänke schwankte, und erhielt als Erwiderung ein rotziges: »Wer will das wissen?«
    »Captain Macheath«, antwortete Henry, und als hätte er das »Sesam öffne dich!« gesprochen, wandelten sich die Gesichtsausdrücke der gerade noch so finster schauenden Leute um ihn herum. Der alte Mann lächelte und deutete auf ein einstöckiges und sehr schmales Fachwerkhaus am hinteren Ende der Sackgasse, das so aussah, als hätte man es in den letzten Jahrhunderten schlichtweg vergessen. Das Haus stand so schräg, dass man meinen konnte, es lehne sich am Nachbarhaus an, um nicht umzufallen.
    Das Mädchen mit den eitrigen Augen rief: »Dort wohnt Hope.«
    »Und wer ist Hope?«, wollte Henry wissen. »Blueskins Freundin?«
    »Seine Schwester«, antwortete der junge Mann. »Aber sie ist nicht da. Es brennt kein Licht, und Hope hat Angst im Dunkeln.« Er ergriff Henrys Unterarm und klopfte ihm gleichzeitig auf die Schulter, als wäre es ihm eine Ehre, ihn zu berühren.
    Schade, dass er keine Autogrammkarten dabeihatte, dachte Henry und unterdrückte ein Grinsen. Auf diese Weise hätte er vielleicht noch ein wenig Geld verdienen können. Er schlenderte bis zum Ende der Gasse, trat vor das Haus, das ihn an die

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