Gegen alle Zeit
Hexenhäuschen in alten Märchen erinnerte, und fand die Eingangstür verschlossen. Er klopfte, aber niemand öffnete, und von der Straße hörte er die Stimme des Mädchens: »Sie ist nicht da. Es brennt kein Licht.«
»Hope hat Angst im Dunkeln, ich weiß«, sagte Henry und setzte sich auf einen löchrigen und morschen Holzeimer, den er in der Gosse fand. Er überlegte, wie alt diese ängstliche Schwester wohl sein mochte, und sagte: »Ich warte hier.«
»Komm ins Blue Bell!«, rief der junge Kerl fröhlich und winkte ihm zu. »Ist gemütlicher. Die Jungs werden sich freuen.«
»Ich warte hier, danke!«, wiederholte Henry. Und demonstrativ zog er sich die Mütze über die Augen. Auf »die Jungs« konnte er im Augenblick gern verzichten, und er hatte ohnehin kein Geld mehr. Seine letzten Münzen hatte er am Nachmittag für zwei Fleischpasteten, ein Paar gebrauchte Schuhe, eine zerschlissene Joppe und ein rostiges Taschenmesser ausgegeben. Das Messer hatte er sich zugelegt, um sich in der Gesellschaft von Gaunern und Huren sicherer zu fühlen, doch seitdem er es in der Jackentasche trug, war das Gegenteil der Fall. Als hätte er plötzlich Angst, das Messer auch benutzen zu müssen. Wie ein böses Omen.
Nachdem Henry am Nachmittag den Wine Court an der Fleet Street verlassen hatte, war er zunächst nach Little Britain gegangen, um in der Cross Keys Tavern auf Bess zu warten. Auch wenn er ahnte, dass dieses Warten unnütz sein würde. Mutter Needham war äußerst ungehalten, weil Bess nicht aufgetaucht war und ein gut betuchter Freier, der nur ihretwegen im Bordell erschienen war, mit einer anderen Hure hatte vorliebnehmen müssen.
Henry berichtete der Puffmutter, was sich am Ye Olde Cheshire Cheese zugetragen und dass Jonathan Wild Bess verschleppt und in die Chick Lane gebracht hatte.
Mutter Needham zog bleich ab und starrte ihn einige Sekunden lang verwirrt an. »Chick Lane?«, fragte sie schließlich und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie überrascht und alarmiert sie war. »Weiß Jack schon Bescheid?«
»Er hat die Stadt heute Morgen verlassen«, antwortete Henry.
»Dann gnade ihr Gott!«, entfuhr es der Zuhälterin widerwillig. Damit beendete sie das Gespräch und wich fortan Henrys fragendem Blick aus, als müsste sie sonst wie beim Anblick der Medusa versteinern.
Weil er nicht wusste, was er tun oder an wen er sich wenden sollte, hatte sich Henry schließlich auf zur Dirty Lane gemacht. Das untätige Warten ging ihm auf die Nerven und ließ ihn nur noch unruhiger werden. Er musste etwas tun! An eine Falle glaubte er inzwischen nicht mehr, denn diese Falle wäre viel zu plump und offensichtlich gewesen. Es hätte dem verschlagenen Gauner nicht ähnlich gesehen. Von Blueskin Hilfe zu bekommen war allerdings auch nicht sehr wahrscheinlich. Er konnte Bess nicht leiden und würde sicherlich keinen Finger für sie rühren, aber vielleicht würde Henry wenigstens von ihm erfahren, was das alles zu bedeuten hatte.
Henry war selbst überrascht, wie sehr ihm Bess’ Schicksal zu Herzen ging. »Die beste Hure Londons«, wie Blueskin sie halb verächtlich genannt hatte, war Henry in den letzten beiden Tagen als eine resolute junge Frau erschienen, die sehr genau wusste, was sie wollte und wie sie es erreichen konnte, und die es vor allem nicht ausstehen konnte, auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Sie würde sich schon selbst zu helfen wissen. Und falls nicht, was kümmerte es Henry? Er kannte sie kaum und hatte aus ihrem Mund noch kein freundliches Wort gehört. Doch auch wenn er sich das nicht recht eingestehen wollte, er machte sich Sorgen um sie. Denn auf seltsame und unheilvolle Weise schien sein Schicksal mit dem der Edgworth Bess verbunden zu sein. Sie war der Schlüssel zu allem! Vielleicht.
»Besuch, Besuch!«, hörte er plötzlich eine tiefe Frauenstimme und fuhr aus seinen Gedanken auf. Offensichtlich war er im Sitzen auf seinem Holzeimer eingenickt; inzwischen war die Sonne untergegangen. Als er nach oben blickte, blendete ihn eine Laterne.
»Besuch?«, fragte die Frau lachend.
Obwohl er nur das eine Wort aus ihrem Mund gehört hatte, wusste Henry sofort, dass mit dieser Frau irgendetwas nicht stimmte. Sie sprach undeutlich, verschluckte die Silben und brummte dabei wie ein Bär. Als er sich an das Licht gewöhnt hatte und ihr ins Gesicht schaute, erkannte er, was mit ihr los war. Ihr Kopf war kugelrund, die Nase flach und stupsig, der Mund stand weit offen, und die mandelförmigen
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