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Gegen alle Zeit

Gegen alle Zeit

Titel: Gegen alle Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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heutzutage »The Actors’ Church« nannte, die Kirche der Schauspieler. Wegen der Nähe zu den Theatern in dieser Gegend.
    Der Bedford Court und das Three Kings Inn waren bald gefunden, und als Henry den Wirt nach Maestro Pepusch fragte, bekam er als Antwort ein gelangweiltes Nicken, einen Wink mit dem Daumen über die Schulter und ein knappes: »Erster Stock!«
    Neben dem Schanktisch trennte eine schwere Flügeltür den Gastraum vom vermieteten Teil des Wirtshauses, und gleich hinter dem Durchgang führte eine schmale Stiege in die oberen Stockwerke. Auf halber Treppe kam Henry eine groß gewachsene Frau in Trauerkleidung entgegen, sie hatte einen schwarzen Schleier vor dem Gesicht und trug eine Reisetasche aus Tuch in der linken und einen kleinen Lederkoffer in der rechten Hand. Henry quetschte sich an der Frau vorbei und grüßte mit einem Kopfnicken, das die Frau jedoch nur mit einem mürrischen Räuspern quittierte.
    Henry stieg hinauf in den ersten Stock und klopfte an die Tür. Niemand öffnete, kein Geräusch war zu hören. Er klopfte erneut, und abermals geschah nichts. Henry griff zur Türklinke, um zu sehen, ob die Tür versperrt war, und er räusperte sich übertrieben laut, um nicht als heimlicher Eindringling zu erscheinen. Doch noch ehe er die Klinke in der Hand hielt, erstarrte er. Ein anderes Räuspern kam ihm plötzlich in den Sinn. Das Räuspern einer trauernden Frau. Es hatte tief und brummig geklungen, wie sein eigenes Räuspern. Und plötzlich wusste Henry, dass der schwarze Schleier kein trauriges Frauengesicht, sondern eine zerschnittene Nase verborgen hatte.
    Rasch eilte er hinunter in den Wirtsraum, doch von Mr. Pepusch war nichts mehr zu sehen. »War gerade eine schwarz gekleidete Frau hier unten?«, wandte er sich an den Wirt.
    »Seltsam, nicht?«, antwortete dieser und kratzte sich das stoppelige Kinn. »Hab sie gar nicht hinaufgehen sehen. Wär mir bestimmt aufgefallen.« Da er Henrys fragenden Blick sah, fügte der Wirt hinzu: »Sie ist raus auf die Straße.«
    Als Henry nach draußen stürmte, sah er die schwarz gekleidete Person gerade am Friedhof vorbei nach Norden gehen. Er folgte ihr in geringem, aber unauffälligem Abstand bis zum Seven Dials, wo er sie beinahe im Gewimmel der sieben aufeinanderstoßenden Gassen aus den Augen verlor. Doch Henry hatte inzwischen Übung darin, Leute durch das ihm so vertraute und dennoch fremde London zu verfolgen. Genauso wie er Bess bis zum Ye Olde Cheshire Cheese gefolgt war, so hängte er sich nun an Mr. Pepuschs Fersen, ohne dass dieser auch nur das Geringste davon mitbekam. Zunächst ging der Kapellmeister weiterhin schnurstracks nach Norden, doch als er die Kirche von St. Giles erreicht hatte, bog er nach Westen ab und betrat die Tyburn Road, die heutige Oxford Street. Die berühmte Einkaufs- und Flaniermeile war im Jahr 1724 die berüchtigte Straße zum Galgen von Tyburn. Und Henry musste daran denken, dass sowohl Jack Sheppard als auch Blueskin Blake in nicht allzu ferner Zukunft in einem Ochsenkarren auf diesem Schandweg vom Newgate-Gefängnis zum Galgen gebracht würden.
    Maestro Pepusch folgte der Tyburn Road nach Westen, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzuschauen oder innezuhalten. Vermutlich fühlte er sich in seiner Verkleidung vor jeglicher Entdeckung oder Verfolgung sicher. Wohin es den Musiker trieb, blieb Henry zunächst ein Rätsel. Je weiter es nach Westen ging, desto dünner war die Gegend besiedelt. Vor allem nördlich der Straße waren immer wieder freie Ödflächen, kleinere Baumgruppen oder bewirtschaftete Felder zu sehen. Am Ende des Weges war bereits der dreibeinige Galgen, der direkt vor dem Hyde Park mitten auf der Straße stand, zu erkennen. Henry vermutete inzwischen, dass Mr. Pepusch die Stadt in Richtung Uxbridge oder Oxford verlassen wollte, als der Kapellmeister plötzlich linker Hand abbog.
    Die kleine Nebenstraße führte zu einem riesigen Platz, der einer einzigen Baustelle glich. In der Mitte war ein rechteckiges Areal zu erkennen, das vermutlich einmal als Park dienen sollte, aber noch kaum bepflanzt war und als Lagerplatz für Baumaterial benutzt wurde. Steine wurden geschnitten und behauen, Bretter gesägt oder genagelt, in einem riesigen Bottich wurde Mörtel angerührt, in einem anderen Kalk gelöscht, sodass dicke Rauchwolken entstanden. Es zischte und lärmte, dass Henry sich die Ohren zuhalten musste. Rings um das Rechteck waren großzügige Häuser und herrschaftliche Villen in

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