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Gegen alle Zeit

Gegen alle Zeit

Titel: Gegen alle Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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unterschiedlichsten Bauphasen und architektonischen Stilen gruppiert. Bei einigen war gerade erst der Keller ausgehoben, andere hatten bereits das Richtfest hinter sich, und die meisten waren noch mit hölzernen Konstruktionen eingerüstet. Ungelenke Kräne mit großen Winden und Zahnrädern schafften das Baumaterial in die oberen Stockwerke. Ein halb fertiges und seltsam uneinheitliches Neubaugebiet für die Reichen und Adeligen, das Henry erst nach langem Überlegen als Grosvenor Square erkannte.
    Mr. Pepusch wich einigen Bauarbeitern aus, die ihre Schubkarren mit Steinen und Brettern beladen hatten und sie mal hierhin, mal dorthin schafften, und bog vom Platz aus in die Brook Street. Diese unscheinbare Straße war links und rechts von backsteinernen Reihenhäusern gesäumt, die ebenfalls erst unlängst errichtet worden waren und Henry an langweilige Vorstadtsiedlungen erinnerten. Beim Anblick dieser Straße wusste er endlich, was Mr. Pepusch in dieser Gegend wollte und wohin ihn seine komische Maskerade führte: In der Brook Street hatte Georg Friedrich Händel eine Zeit lang gelebt, in einem schmucklosen Haus, in dem sich heute das Händel House Museum befand.
    Tatsächlich begab sich Mr. Pepusch direkt zu Händels Haus, stieg die Stufen zum Eingang hinauf und klopfte an die Tür. Eine Dienstbotin öffnete, hörte der schwarz gekleideten Person mit zunehmend irritiertem Gesichtsausdruck zu, nickte dann und entfernte sich. Kurz darauf erschien ein korpulenter Mann mit Doppelkinn und langem Hausmantel in der Tür und fuhr erschrocken zusammen, als sein Gegenüber den Schleier anhob und sein Gesicht zeigte. Händel griff Mr. Pepusch an der Schulter und zog ihn so heftig ins Haus, dass dieser beinahe über die Reisetasche stolperte, die er auf dem Treppenabsatz abgestellt hatte. Dann fiel die Tür ins Schloss.
    Auftrag erledigt, dachte Henry zufrieden. Mr. Pepusch hatte also bereits einen Unterschlupf gefunden, und er hätte wahrlich einen weniger trefflichen Fürsprecher finden können als Georg Friedrich Händel, den Leiter der königlichen Oper und persönlichen Schützling des Königs. Allerdings wunderte sich Henry, dass Mr. Pepusch ausgerechnet die Hilfe von Händel suchte, denn nach allem, was er über den Komponisten der Bettleroper gelesen hatte, war ihm dessen Beziehung zu seinem deutschen Landsmann eher als eifersüchtige Konkurrenz denn als innige Freundschaft erschienen. Schließlich war es nicht zuletzt der immense Erfolg der frivolen englischen Beggar’s Opera gewesen, der Händels opulenten italienischen Opern den Garaus gemacht hatte. Aber vielleicht war es zu diesem Streit und Wettbewerb der Komponisten erst Jahre später gekommen, oder es handelte sich bloß um eine der vielen Sagen und Legenden.
    Henry konnte es egal sein. Zugleich aber merkte er, dass sich eine seltsame Aufgeregtheit in ihm breitmachte. Erst jetzt und mit seltsamer Verzögerung wurde ihm bewusst, dass er gerade den großen Georg Friedrich Händel gesehen hatte. Den leibhaftigen Händel, den er bislang nur von Gemälden oder als glänzende Marmorstatue aus dem Victoria and Albert Museum kannte. Und als hätte der große Meister Henrys Gedanken erraten und als wolle er ihm eine zweite Gelegenheit zum näheren Betrachten geben, öffnete sich in diesem Augenblick Händels Haustür, und die beiden Komponisten traten hinaus ins Freie.
    Mr. Pepusch hatte seine Kopfbedeckung samt Schleier abgesetzt und hielt sie, zusammen mit Reisetasche und Lederkoffer, in den Händen. Er stürzte regelrecht die Treppenstufen hinunter und schimpfte lauthals auf Deutsch mit Händel, der händeringend in der Tür stand und seinen Kollegen, ebenfalls auf Deutsch, zu beschwichtigen versuchte. Doch Maestro Pepusch wurde nur noch lauter und aggressiver, und obwohl Henry kein Wort verstand, war offenkundig, dass er ausfallend und beleidigend wurde. Das war schon daran zu erkennen, dass Maestro Händel ebenfalls zu schreien anfing, drohend die Faust ballte, schließlich wutentbrannt ins Haus stürmte und die Tür hinter sich zuschlug.
    Wie ein begossener Pudel stand Mr. Pepusch auf der Straße und wurde von neugierigen Passanten beäugt. Nicht nur, weil sie den lauten Streit gehört hatten, sondern auch, weil die seltsame Kleidung und die notdürftig verbundene und blutverkrustete Nase des Mannes alles andere als unauffällig waren. Dem Kapellmeister schien gar nicht bewusst zu sein, dass er eine merkwürdige Figur abgab; er verharrte reglos an Ort und

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