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Gegen alle Zeit

Gegen alle Zeit

Titel: Gegen alle Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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grüßen. Sie hat mir den Weg gewiesen.«
    Das Mädchen nickte stumm, und während sie eine Talgkerze anzündete, ging ihr Blick zu dem schlafenden Mann in der Ecke, dessen Kopf in diesem Augenblick zur Seite fiel und mit einem lauten Knall auf der Tischplatte landete. Es folgte ein ärgerliches Grunzen, dann ein friedliches Schnarchen, als wäre nichts geschehen.
    »Dein Vater?«, fragte Bess und hob die Augenbrauen.
    Tessa schaute sie überrascht an, verstand dann aber und knurrte: »Violet redet zu viel.« Sie trat hinter dem Schanktisch hervor, nahm Bess’ Reisetasche und verließ den Schankraum durch eine niedrige Tür, die zum hinteren Teil des Hauses führte. »Kommt Ihr?«, fragte sie. »Oder habt Ihr es Euch anders überlegt?«
    Bess folgte dem Mädchen zu einer schmalen und sehr steilen Treppe und schaute am Fuß der Stiege wie beiläufig zur Hintertür, die zum Hof und den rückwärtigen Ställen und Remisen führte. Und die Erinnerung schlug ihr wie eine Ohrfeige ins Gesicht. Wie oft hatte sie sich mitten in der Nacht durch diese Tür geschlichen? Wie oft war sie die knarrende Treppe hinaufgehuscht? Wie oft hatte sie sich auf leisen Sohlen zum Zimmer mit der Nummer zehn begeben und vorsichtig ans Holz geklopft? Wenn sie und Albrecht sich nicht in der geheimen Treppenkammer in der Kirche von Whitchurch getroffen hatten oder es wegen des Wetters nicht möglich gewesen war, sich unter freiem Himmel zu lieben, dann war Bess nachts zum Gasthof gekommen, um ihren Liebsten zu sehen. Und jedes Mal hatte es ihr eine Lust und ein Glücksgefühl verschafft, wie sie es seitdem nie wieder empfunden hatte.
    »Wollt Ihr ein bestimmtes Zimmer?«, fragte Tessa, als sie merkte, dass Bess vor der Nummer zehn stehen blieb und wie gebannt auf die Tür starrte.
    »Ist dieses Zimmer frei?«
    »Alle zehn Zimmer sind frei«, antwortete die Schankfrau achselzuckend. »Bis auf die Nummer eins am Ende des Korridors. Dort wohnt der Doktor, aber nur noch ein paar Tage, bis der Herzog wieder da ist. Wenn Ihr wollt …« Sie öffnete die Tür, trat ein und beleuchtete das Zimmer, das Bess so gut kannte und das ihr in diesem Augenblick dennoch so fremd vorkam. Weil sie immer nur nachts hier gewesen war. Und weil sie nie auf das Zimmer geachtet hatte.
    »Soll mir recht sein«, meinte Bess und versuchte, ihre Aufregung zu unterdrücken. »Gibt’s was zu essen?«, fragte sie und setzte sich aufs Bett, während Tessa die Reisetasche abstellte und eine Talgkerze auf dem Nachttisch entzündete.
    »Ay, Ma’am«, antwortete die junge Frau. »Wenn Ihr keine Ansprüche stellt. Der Master und die Missis sind heute nicht da, und ich bin ganz allein unten. Ich kann Euch Linseneintopf bringen, wenn Ihr wollt.« Sie wandte sich zur Tür und drehte sich im Türrahmen um: »Ich bringe Euch Wasser und Tücher, sobald ich das Stew warm gemacht habe.«
    Bess nickte und merkte kaum, wie das Mädchen das Zimmer verließ.
    Sobald die Tür ins Schloss gefallen war, schossen ihr die Tränen in die Augen und liefen ihr heiß über die Wangen. Was, um alles in der Welt, machte sie hier? Was hoffte sie zu erreichen oder zu erfahren? Und an wen wollte sie sich wenden? »Im Little Stanmore Inn hat alles angefangen«, so hatte sie am Morgen zu Henry gesagt, und auch wenn das vielleicht stimmte, so half es ihr nicht weiter. Keiner der damaligen Musiker wohnte noch im Gasthof, niemand würde ihr sagen können, was sich in jenen Tagen zugetragen hatte. Der Wirt hatte schon damals nach Chandos’ Pfeife getanzt, und es war nicht zu vermuten, dass sich daran etwas geändert hatte. Der einzige Mensch, der womöglich etwas wusste, war Maestro Pepusch, und der war in London. Wenn er noch lebte und Henry Ingram ihn rechtzeitig gewarnt hatte. Bess wünschte, sie könnte jetzt bei Henry sein oder Henry bei ihr. Auch wenn sie bezweifelte, dass er ihr irgendeine Hilfe sein würde. So seltsam es auch war, sie vermisste diesen komischen Kauz, der ihr bereits zweimal aus der Patsche geholfen hatte. Gleichzeitig hasste sie ihn dafür, denn sie war ihm etwas schuldig. Wie sie auch Jack jahrelang etwas schuldig gewesen und deshalb nicht von ihm losgekommen war. Alles wie gehabt!
    Bess schaute sich in dem Zimmer um und hatte plötzlich die alberne und dumme Hoffnung, irgendetwas zu entdecken, das sie an Albrecht Niemeyer und ihre gemeinsamen Nächte in diesen vier Wänden erinnerte. Doch sie fand nichts und schalt sich im selben Augenblick für ihre unangebrachte Sentimentalität.

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