Gegen alle Zeit
Sie war in einem verdammten Gasthaus. Hunderte Menschen hatten vermutlich seit damals in diesem Bett geschlafen. Nicht nur Albrecht und sie hatten hier Liebe gemacht. Und mit einem Mal fühlte sie sich wieder wie die schäbige Hure, die sie war. Die Albrecht aus ihr gemacht hatte.
Sie musste wider Willen lachen. Wie hatte Mr. Wild im Beichtstuhl gesagt? »Du warst schon eine Hure, bevor du in einem Bordell gelebt hast. Mach dir nichts vor, Bess, du warst nie etwas anderes!« Und er hatte recht damit gehabt. Das Einzige, was sie wirklich konnte und von Grund auf gelernt hatte, war, den Männern zu gefallen und die Beine breit zu machen. Wenn möglich, um ihnen gleichzeitig die Taschen zu leeren. Bravo, Bess!
Sie warf sich aufs Bett, vergrub ihren Kopf in den Kissen und schluchzte sich in den Schlaf, der sie wie ein Straßenräuber aus dem Hinterhalt überfiel.
3
Als sie aufwachte, war es draußen stockfinster. Die Kerze war beinahe niedergebrannt, und auf der Kommode standen ein gefüllter Waschbottich und ein Teller mit lauwarmem Lentil Stew, das einen stechenden Essiggeruch absonderte.
Bess war plötzlich hellwach. Sie sprang auf, kramte einen Kapuzenumhang aus der Reisetasche, warf ihn sich über die Schultern, löschte die Kerze, trat aus dem Zimmer, ging die Treppe hinunter und verließ das Gasthaus durch den Hintereingang. Im Hof schaute sie sich suchend um. Im schwachen Licht des abnehmenden Mondes sah sie den Ziehbrunnen in der Mitte des Yards, die Remisen zur Linken, den Pferdestall daneben, den Abtritt in der Ecke des Grundstücks und den Wagenschuppen auf der rechten Seite, gleich neben einem weiteren Stall, in dem die Schweine und das Kleinvieh untergebracht waren. Dies war das Gebäude, in dem Matthew sich angeblich das Leben genommen hatte, nachdem er Albrecht in dessen Zimmer die geladene Pistole aus den Händen gerissen hatte. Seine Leiche hatte man im Schweinedreck gefunden, und wenn nicht ein Knecht Essensreste in den Stall gebracht und Matthew entdeckt hätte, wären womöglich die gefräßigen Schweine über ihn hergefallen. Bess wurde ganz übel bei dem Gedanken.
In diesem Augenblick schlug eine Tür zu, ein Mann räusperte sich wohlig, und als Bess herumfuhr, sah sie einen Schatten vor den Latrinen, der sich dem Wirtshaus näherte. Nur ein Gast, der sich auf dem Donnerbalken Erleichterung verschafft hatte, doch Bess zuckte zusammen, als hätte man sie bei etwas Ungehörigem ertappt, und sie lief Hals über Kopf davon. Erst durch die Hofeinfahrt zum Sandweg und dann geradeaus nach Westen. In Richtung Cannons.
Der Mond stand als schmale Sichel am Himmel, doch weil der Weg von Bäumen und dichtem Gestrüpp gesäumt war, konnte sie den Boden zu ihren Füßen kaum erkennen und stolperte mehrmals über Baumwurzeln und wuchernde Grasbüschel. Schließlich erreichte sie völlig außer Atem Whitchurch, und als sie den alten Kirchturm mit seinen Zinnen und dem gemauerten Aufsatz für den Fahnenmast vor sich sah, zog sie sich die Kapuze über den Kopf, als hätte sie Angst, man könnte sie erkennen. Dabei war ringsum niemand zu sehen oder zu hören. Alles war totenstill und duster.
Bess betrat den Kirchhof auf der Südseite, ging im Zickzack um die steinernen Kreuze, Grabmäler und Skulpturen herum, die scheinbar ohne jede Ordnung aus dem Boden zu sprießen schienen, und gelangte schließlich auf die Nordseite des Geländes, wo die Totenkreuze aus Holz und die Grabsteine merklich unscheinbarer waren. Von hier aus führte eine weitere breite und kiesbedeckte Allee zum Palast des Herzogs, der jedoch in der Dunkelheit nicht auszumachen war. Rechter Hand führte ein schmaler Pfad zum Küsterhaus, das außerhalb des Kirchhofs, aber nur einen Steinwurf weit entfernt lag. Zwischen dem von Ulmen umstandenen Cottage und dem mit einer hohen Mauer umfriedeten Kirchgelände befand sich der Schandanger, auf dem die Toten ruhten, denen die gesegnete Erde des Kirchhofs verwehrt worden war. Weil sie Gottlose, ungetaufte Neugeborene oder Selbstmörder gewesen waren.
Hier war Matthew begraben worden, ohne jede kirchliche Zeremonie, ohne Singen, Beten oder Glockenläuten. Ohne Priester. Und ohne Witwe. Bess war der Beerdigung ferngeblieben, weil ihre Gegenwart ausdrücklich unerwünscht gewesen war und ihr Erscheinen vermutlich für einen Aufruhr unter den Trauernden gesorgt hätte. Und so wusste sie nicht, an welcher Stelle man ihren Mann verscharrt hatte. Es tat auch nichts zur Sache, sie hätte ohnehin kein
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