Gegen alle Zeit
Freund.«
»Nein«, antwortete Henry, »es ist das Werk von Mr. Wild.« Beinahe hätte er etwas Dummes hinzugefügt, doch im letzten Moment biss er sich auf die Lippen und schluckte die Worte hinunter, die sein Wissen um Jacks Doppelspiel verraten hätten. Mit Tränen in den Augen deutete er auf die schwarz verkohlte und lodernde Ruine, und er wiederholte: »Das war Mr. Wilds Werk.«
»Mag sein oder auch nicht.« Jack Sheppard zuckte mit den Schultern und wollte Henry fortschaffen, doch der riss sich los und schrie: »Nein, das ist mein Werk! Wäre ich nicht gewesen, wäre nichts von alledem geschehen! Es ist meine Schuld!«
»Nun übertreib m-mal nicht!«, entgegnete Jack überrascht und versuchte vergeblich, Henry zu beruhigen: »Blueskin ist für sich selbst v-verantwortlich. Und für seine Schwester. Er hätte Hope bei seiner M-Mutter lassen sollen.«
»Was weißt denn du?!«, schnauzte Henry ihn an und boxte ihm gegen die Brust, dass der kleine Kerl beinahe rücklings zu Boden ging. »Du hast doch überhaupt keine Ahnung, Jack. Nicht die geringste!« Mit diesen Worten rannte er davon, und er wünschte, dieser Albtraum möge endlich aufhören. Oder es möge wenigstens ein anderer Albtraum beginnen.
VIERTER TEIL
MISTRESS LYON
Polly:
Nay, my Dear, I have no reason to doubt you, for I find in the romance you lent me, none of the great heroes were ever false in love.
Polly:
Nein, mein Liebster, ich habe keinen Grund, an dir zu zweifeln, denn in den Romanzen, die du mir geliehen hast, war keiner der großen Helden jemals falsch in der Liebe.
John Gay, The Beggar’s Opera,
Akt I, Szene XIII
1
»Eher will ich sterben, bevor ich zu ihnen zurückkehre oder sie um Hilfe bitte.« Am Morgen erst hatte Bess dies zu Henry Ingram gesagt, und nie hätte sie gedacht, dass sie ihre Worte so bald Lügen strafen würde. Doch nun, am späten Nachmittag, stand sie vor dem kleinen strohgedeckten Cottage ihrer Eltern, gleich hinter der verfallenen und wie geflickt wirkenden Kirche von St. Margaret in Edgworth, und klopfte an die niedrige Tür, durch die sie in ihrem Leben so oft gegangen war, dass es ihr jetzt eine Gänsehaut verursachte. Sie wusste selbst nicht genau, wieso sie die Tagelöhnerkate der Woodlawns aufgesucht hatte, kaum dass sie der Kutsche aus London entstiegen war, aber ihre Schritte waren wie von einer unsichtbaren Kraft zum nahe gelegenen Häuschen der Eltern gelenkt worden. Wider besseres Wissen und gegen jede Vernunft.
Die Fahrt nach Edgworth hatte ewig gedauert. In Highgate hatte sie die Postkutsche wechseln müssen und war von dort aus durch die hügelige Heide von Hampstead und die öde Farmlandschaft von Middlesex gefahren. Während sie in der Kutsche durchgeschüttelt wurde, hatte sie versucht, ihre weiteren Schritte zu überlegen oder die bisherigen Ereignisse zu begreifen, doch als sie Stunden später in ihrem Heimatdorf ankam, war sie in Gedanken nicht weiter als bei Beginn ihrer Reise. Und vielleicht klopfte sie deshalb an die Tür ihres Elternhauses. Weil ihr nichts Besseres einfiel.
Auf ihr Klopfen hin öffnete nach einer Weile ein kleines pausbackiges Mädchen die Tür und starrte die Besucherin neugierig an.
»Wer bist du denn?«, wunderte sich Bess.
»Violet Milton«, antwortete das Mädchen. »Und du?«
»Mein Name ist Elizabeth.«
Das Mädchen nickte, machte aber keine Anstalten, Bess hineinzulassen. Stattdessen sagte sie: »Mama ist nicht da. Und die anderen auch nicht. Die sind auf den Feldern. Nur Papa nicht, der ist in der Schänke. Wahrscheinlich.«
»Und wer sind deine Eltern?«
Das Mädchen, das vielleicht fünf Jahre alt war, schien den Sinn der Frage nicht zu verstehen und sagte: »Na, Mama und Papa eben.«
Bess nickte und erwiderte: »Ich suche die Woodlawns.«
Wieder der verständnislose Blick und die krausgezogene Nase, doch dann schien die Kleine zu begreifen. »Meinst du die Leute, die früher hier gewohnt haben?«, fragte sie lächelnd und deutete an Bess vorbei zur Kirche von St. Margaret.
»In der Kirche?«, fragte Bess.
»Nein, auf dem Friedhof.«
»Sie sind tot?«
»Natürlich«, sagte Violet lachend. »Sonst könnten wir doch gar nicht hier wohnen. Wär doch gar kein Platz im Cottage. Mama sagt, ist eh schon eng genug für uns alle. Früher haben wir in Little Stanmore gewohnt, aber da war’s auch nicht besser. Jedenfalls nicht viel.«
Bess war wie vor den Kopf geschlagen. Alles drehte sich vor ihren Augen, und sie musste sich am Türrahmen
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