Gegen alle Zeit
ändern.
»Wer?«
»Der Deutsche natürlich, dieser Niemeyer, aber das ist gar nicht entscheidend.« Der alte Mann zuckte mit den Schultern, starrte weiterhin aufs Grab und setzte hinzu: »Die Frage sollte lauten: Wieso hat er ihn getötet?«
»Aber …« Bess war völlig verwirrt und versuchte, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. »Als ich vor drei Jahren behauptet habe, dass man Matthew erschossen hat, da habt Ihr mich eine verlogene Hure geschimpft und wie einen Köter aus dem Haus vertrieben. Ihr wolltet davon nichts hören.«
»Weil die blanke Schuld und das schlechte Gewissen aus dir sprachen«, erwiderte Mr. Lyon und wandte ihr den Kopf zu. »Du konntest den Gedanken nicht ertragen, dass Matthew deinetwegen in der Hölle schmort, deshalb hast du von einem Anschlag gefaselt. Du warst ja nicht bei Sinnen und die meiste Zeit betrunken. Niemand hat dich ernst genommen!«
»Und jetzt habt Ihr Eure Meinung geändert?«
»Der Deutsche hat Matthew erschossen«, sagte Mr. Lyon deutlich und bestimmt. »Aber ich glaube nicht, dass er es deinetwegen getan hat, Elizabeth.« Und mit Abscheu in der Stimme fügte er hinzu: »Dafür warst du nicht wichtig genug. Jedenfalls nicht für den Flötenspieler.«
Bess unterdrückte das Bedürfnis, das falsche Instrument zu berichtigen, und fragte: »Was glaubt Ihr, Sir? Warum wurde Matthew erschossen?«
Mr. Lyon stand auf und wandte sich dem Küsterhaus zu. »Diese Frage habe ich damals dem Wirt in Little Stanmore gestellt, und er hat eine interessante Antwort darauf gegeben. Er hat gesagt: ›Matthew ist an den falschen Mann geraten und hat es mit dem Leben bezahlt.‹ Erst dachte ich, er meinte damit den Deutschen, doch das glaube ich inzwischen nicht mehr.«
»Sondern?«, fragte Bess, folgte dem Alten und war erstaunt, dass er direkt zum Küsterhaus ging und das Holzkreuz auf Matthews Grab liegen ließ.
»Nur wenige Tage, nachdem ich mit dem Wirt gesprochen habe, erschien der Herzog bei mir und bat mich, die Stellung meines Sohnes zu übernehmen. Bei doppeltem Lohn und freier Kost und Logis.«
»Ihr seid jetzt der Kirchdiener von Whitchurch?«, rief Bess erstaunt. Wenn sie sich recht erinnerte, dann war Mr. Lyon früher einmal Kornhändler gewesen, hatte aber wegen seiner angegriffenen Gesundheit das Geschäft aufgeben und immer wieder Matthews finanzielle Unterstützung in Anspruch nehmen müssen.
»Ein Diener der Kirche, jawohl. Aber nur unter der Bedingung, dass ich keine Fragen mehr stelle«, antwortete Mr. Lyon, und sein eingefallenes Gesicht sah aus, als würden ihm gleich die Tränen kommen. »Der Herzog hat mir und meiner Frau auf Lebzeiten ein gutes Auskommen verschafft und unser Schweigen erkauft.« Bitter lachend setzte er hinzu: »Für dreißig Silberlinge. Und den Blutacker des Judas Ischariot haben wir gleich vor der Nase.«
Mr. Lyon öffnete die kleine Pforte zum Garten des Küsterhauses und wollte sie hinter sich schließen, als Bess ihn mit einer Frage zurückhielt: »Was ist mit dem Kreuz auf Matthews Grab?«
»Keine Bange, morgen in der Frühe wird es nicht mehr dort liegen. Damit alles seine Ordnung hat und niemand von Gotteslästerung reden kann.« Da der Mond inzwischen untergegangen war, konnte Bess das Gesicht des Alten nicht sehen, doch ein leises Schluchzen verriet, dass er weinte. Schließlich zog er fast ärgerlich die Nase hoch, räusperte sich geräuschvoll und meinte: »Du hast vorhin meine Frage nicht beantwortet, Elizabeth.«
»Warum ich hier bin?«, erwiderte Bess und dachte eine Weile schweigend nach. Dann sagte sie: »Um Antworten zu bekommen. Auf die Fragen, die nicht gestellt werden dürfen. Damit das Kreuz auch bei Tage auf dem Grab bleiben kann.«
»Was du getan hast, lässt sich nicht wiedergutmachen!«, antwortete Mr. Lyon unversöhnlich und hart. Dann wiederholte er leise und kaum hörbar die Worte von vorhin: »Und ich werde dich ewig dafür hassen.«
Bess antwortete nichts. Als Mr. Lyon im Küsterhaus verschwunden war, sagte sie ebenso unversöhnlich: »Tut, was Ihr nicht lassen könnt!«
4
In dieser Nacht schlief Bess unruhig, und als sie am frühen Morgen aufwachte, fühlte sie sich, als hätte sie kein Auge zugetan. Die wilden und wirren Träume, die ihr den kalten Schweiß auf die Haut getrieben und die nächtliche Erholung geraubt hatten, hatten allerdings nichts mit Matthew oder Albrecht zu tun gehabt. Nein, es waren Blueskin und Henry Ingram, die ihr im Traum erschienen waren und sie geplagt hatten.
Weitere Kostenlose Bücher