Gegen alle Zeit
Verlangen gespürt, Matthews Grab zu besuchen. Warum auch? Um ihn posthum um Verzeihung zu bitten? Um sich die eigene Schande immer wieder vor Augen zu halten? Dafür brauchte sie kein gottverdammtes Grab!
Ein seltsames, unheimliches Gefühl beschlich Bess mit einem Mal. Sie fühlte sich beobachtet und wusste im selben Augenblick, dass sie nicht allein auf dem Schandanger war. Die Mondsichel stand inzwischen so tief, dass ein Großteil des Angers im Schatten der hohen Friedhofsmauer lag. Und dieser Schatten war so schwarz wie Kohle und verschluckte alles, was sich darin befand. Doch Bess war sich sicher, dass jemand da war und sie beäugte. Auch wenn kein Geräusch zu hören und keine Bewegung zu sehen war.
»Ist da jemand?«, fragte sie in die Dunkelheit und machte unwillkürlich einen Schritt zurück. Sie spürte ein Zerren an ihrem Mantel und fuhr herum, doch es war nur ein Rosenstrauch, der sich in dem Stoff des Umhangs verfangen hatte. Sie riss sich los und rief mit zittriger Stimme: »Warum sagt Ihr nichts? Ich weiß, dass jemand da ist! Zeigt Euch!«
»Was willst du hier, Elizabeth?«, antwortete die knarrende Stimme eines Mannes, die Bess bekannt vorkam, die sie jedoch nicht zuordnen konnte.
»Wer seid Ihr, Sir?« Bess wunderte sich, dass der Mann sie erkannt hatte, obwohl sie die Kapuze auf dem Kopf hatte und in der Dunkelheit kaum etwas zu sehen war. Vermutlich hatte ihre rauchige und markante Stimme sie verraten.
»Kennst du mich nicht mehr, oder willst du mich nicht erkennen?« Ein Mann trat aus dem Schatten, nur wenige Schritte von Bess entfernt, und wandte ihr sein knittriges und schmales Gesicht zu, das in dem fahlen Mondlicht wie das eines Geistes aussah.
»Mr. Lyon!«, entfuhr es Bess, und sie schlug erschrocken die Hand vor den Mund. »Was macht Ihr denn hier?«
»Das hatte ich dich gerade gefragt, Elizabeth«, sagte der alte Mann und baute sich mit in die Seiten gestemmten Armen vor Bess auf – was etwas merkwürdig aussah, da Bess den Alten um mehr als einen Kopf überragte.
Dennoch war Bess eingeschüchtert und senkte den Blick. Matthews Vater hatte sie um diese Zeit wahrlich nicht hier erwartet, und er war von allen Menschen in Little Stanmore derjenige, dem über den Weg zu laufen sie am allerwenigsten gewünscht hatte. Wie ein kleines Mädchen trat sie von einem Bein auf das andere und stotterte leise und verschämt: »Tut mir leid, Mr. Lyon. Ich weiß nicht … ich weiß selbst nicht, was … es tut mir leid.«
»Dafür ist es zu spät«, antwortete Mr. Lyon knapp, wandte sich ab und verschwand wieder im Schatten der Mauer. Bess folgte ihm, und als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie das Grab, das es eigentlich nicht hätte geben sollen. Kein Kreuz und kein Grabstein durften auf die Ruhestätte eines Selbstmörders hinweisen. Hand an sich zu legen galt als die schlimmste Sünde vor Gott. Wie ein verendetes Tier wurde der Selbstmörder verscharrt, weshalb man eine solche Beerdigung auch Eselsbegräbnis nannte, und wie bei einem Tier galt es als Sakrileg, dem Toten christliche Insignien zuzugestehen. Doch Bess erkannte, dass direkt an der Mauer ein hölzernes Kreuz auf dem Boden lag, umringt von Feldblumen: Margeriten, Silberdisteln und Astern. Allesamt mit weißen Blütenblättern. Und nun glaubte Bess zu verstehen, was Mr. Lyon in der tiefsten Dunkelheit auf den Friedhof trieb. Er machte den Schandanger zu einem Gottesanger und verschaffte seinem Sohn zumindest nachts ein christliches Grab. Geschmückt mit Blütenblättern in der Farbe der Barmherzigkeit und Unschuld.
»Matthew sollte eigentlich auf der anderen Seite der Mauer liegen«, sagte Bess und deutete zur Kirche. »Denn er ist kein Selbstmörder.«
»Ich weiß«, knurrte der Alte und bekreuzigte sich. »Aber das macht dich nicht weniger schuldig, Elizabeth. Du hast unseren Sohn auf dem Gewissen, auch wenn nicht du es warst, die ihn erschossen hat. Diese Schuld wird dir niemand erlassen. Und ich werde dich ewig dafür hassen!«
Bess schluckte, nickte beschämt und kniete neben dem Grab nieder. Zunächst befürchtete sie, Mr. Lyon würde sie verscheuchen, doch er war völlig in Gedanken versunken, hielt die Hände vor der Stirn gefaltet und schien zu beten. Dann erst begriff Bess, was Matthews Vater gerade gesagt hatte, und es brach aus ihr heraus: »Ihr wisst , dass Matthew kein Selbstmörder ist?!«
»Man hat ihn ermordet«, antwortete Mr. Lyon, ohne seine Haltung zu
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