Gegen alle Zeit
festhalten, um nicht in sich zusammenzusinken. »Wieso?«, fragte sie, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten. »Wann?« Und dann noch mal: »Wieso?«
»Vor zwei Jahren«, sagte eine weibliche Stimme hinter Bess, und als sie sich umwandte, schaute sie in das ausgemergelte und graue Gesicht einer ihr unbekannten Frau, die einen mit Fallobst gefüllten Korb auf den Schultern trug. »Mr. und Mrs. Woodlawn sind vor zwei Jahren gestorben.«
»Woran?«
»Nervenfieber«, antwortete die Frau und stellte den Korb mit den wurmstichigen und halbfaulen Äpfeln auf dem Boden ab. »Haben sich gegenseitig den Tod gebracht. Sagen die Leute. Wir haben damals noch nicht in Edgworth gewohnt. Aber weshalb wollt Ihr das wissen, Ma’am? Wer seid Ihr überhaupt?«
»Das ist Elizabeth«, erklärte Violet wichtigtuerisch.
»Seid Ihr eine Verwandte?«
Bess zögerte, schüttelte dann den Kopf und fragte: »Wo liegen sie begraben?«
»Ich kann’s dir zeigen«, meinte Violet und sah ihre Mutter flehend an.
»Meinetwegen«, knurrte die Frau und betrat das Cottage. »Aber dann kommst du zurück und hilfst mir mit den Äpfeln. Wenn’s sonst schon keiner tut.«
»Ay, Ma’am!«, rief Violet und rannte hinaus.
Während Bess dem Mädchen zum Friedhof von St. Margaret folgte, dachte sie daran, dass sie nun die Letzte der Familie Woodlawn war. Drei jüngere Geschwister waren allesamt im Kindesalter gestorben, zwei Brüder an den Blattern und eine Schwester am Stickhusten, und nun hatte das Nervenfieber auch ihre Eltern dahingerafft. Bess erinnerte sich mit einem Schaudern daran, dass auch sie in der vergangenen Nacht beinahe gestorben wäre. Allerdings nicht an einer Krankheit.
»Hier ist es«, sagte das Mädchen und deutete auf zwei schlichte Holzkreuze in einer dunklen Ecke auf der Nordseite des Friedhofs, auf denen lediglich einige Initialen und Jahreszahlen eingekerbt waren: »N. W. 1674–1722« und »E. W. 1680–1722«. Ein namenloses Armengrab ohne Bepflanzung oder sonstigen Schmuck. Ringsum waren ähnliche Holzkreuze aufgestellt, deren Inschriften bereits verwittert und unleserlich waren.
Bess betrachtete das Grab ihrer Eltern, ohne wirklich Trauer zu empfinden. Der kurze Schwindel, der sie bei der Nachricht ihres Todes erfasst hatte, war mehr der Überraschung als dem Mitgefühl geschuldet gewesen. Die Erinnerung an ihre Eltern war wahrlich nicht ungetrübt, und Bess neigte keineswegs zu beschönigenden Verklärungen. Schon als kleines Mädchen hatte sie das Elternhaus als finsteres Gefängnis betrachtet, mit Ned und Emma Woodlawn als böswilligen Wärtern und Schließern. Nie hatte sie es den Eltern recht machen können, stets hatten sie etwas an ihr auszusetzen gehabt, und sei es die bloße Tatsache, dass sie nur ein Mädchen war und die nachgeborenen Brüder überlebt hatte. Das hatte Bess allzu deutlich und immer wieder schmerzhaft zu spüren bekommen. Vor allem aber dachte sie daran, wie ihre Eltern ihr vor drei Jahren die Tür vor der Nase zugeschlagen und gesagt hatten, sie solle sich zum Teufel scheren.
»Weinst du jetzt?«, fragte Violet.
Bess schüttelte unwirsch den Kopf. »Warum sollte ich?«
»Mama weint immer auf dem Friedhof«, antwortete das Mädchen. »Wegen Susan und Peter. Die liegen da drüben.« Sie deutete auf ein weiteres Armengrab, das sich jedoch von diesem hier dadurch unterschied, dass es mit Blumen und blühendem Heidekraut geschmückt war. Und ohne dass Bess gefragt hätte, fügte sie achselzuckend hinzu: »Sie waren schon tot, als sie geboren wurden.«
Bess stand auf und wandte sich wortlos ab. Sie hatte genug vom Friedhof und von den Toten, über die man hier überall stolperte. Sie wollte nichts mehr hören vom Sterben und Kranksein. Deshalb verließ sie eilends das Kirchgelände und schaute nach Nordwesten, wo sich in etwa anderthalb Meilen Entfernung das prächtige Anwesen des Herzogs von Chandos befand. Eine breite und schnurgerade Allee mit doppelten Baumreihen auf beiden Seiten führte von hier aus zum Palast, vorbei an einem kreisrunden Springbrunnen und einem künstlich angelegten Teich. Die Leute in Edgworth, die eine Vorliebe für anschauliche Vereinfachungen hatten, nannten diese Wasserspielereien des Herzogs nur »das Becken« und »den See«.
»Wo willst du hin?«, rief ihr die kleine Violet hinterher. »Nach Cannons?«
»Gibt’s das Little Stanmore Inn noch?«, antwortete Bess mit einer Gegenfrage.
»Klar«, meinte das Mädchen und wies auf einen schmalen Waldweg, der
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