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Gegen alle Zeit

Gegen alle Zeit

Titel: Gegen alle Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Finnek
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unweit der herzoglichen Allee nach Westen führte. »Da arbeitet doch Tessa.«
    »Und wer ist Tessa?«
    »Meine große Schwester. Und Papa ist vermutlich auch da. Aber der arbeitet nicht mehr im Inn. Früher war er mal Knecht dort, aber jetzt trinkt er da immer nur. Im Dorf kriegt er nichts mehr, sagt Mama, deshalb bettelt er bei Tessa. Aber nur, wenn der Master nicht da ist.« Sie hob die Achseln, winkte Bess zu und verabschiedete sich: »Ich muss jetzt zu den Äpfeln. Sonst kriegt Mama schlechte Laune, und es setzt wieder Prügel.«
    »Dann aber hurtig!«, erwiderte Bess und hob die Hand zum Gruß. Sie schulterte ihre Reisetasche und wandte sich nach Westen, wo die Sonne noch eine Handbreit über dem bewaldeten Horizont stand.

2

    Früher war das Little Stanmore Inn nur ein ärmliches Bauernhaus inmitten der Felder und Wiesen gewesen, dessen Besitzer einen kleinen Ausschank für die benachbarten Kleinbauern, Tagelöhner und Feldarbeiter betrieben hatte. Das heutige Gasthaus war, wie so vieles in der Gegend, ein Gebilde des Herzogs von Chandos, denn ohne dessen Gäste, Gesinde und Bedienstete sowie die zahlreichen Bittsteller, die den herzoglichen Palast wie Schmeißfliegen umlagerten, hätte das Inn in seiner jetzigen Größe gar nicht existieren können. In den Gastzimmern waren vor allem die Musiker der herzoglichen Kapelle untergebracht, aber auch Schriftsteller und Maler verkehrten gern und häufig in der Schänke, weshalb sie von den Leuten im Dorf auch »das Künstlerhaus« genannt wurde. Jedenfalls war das vor drei Jahren so gewesen, bevor Bess nach London gebracht worden war.
    Das Inn befand sich auf halber Strecke zwischen Edgworth und Little Stanmore, direkt an dem schmalen und gewundenen Sandweg, der zur Kirche von St. Lawrence Whitchurch führte. Als Bess vor dem gedrungen wirkenden Fachwerkhaus stand, wunderte sie sich, wie verlassen und ausgestorben der Ort wirkte. Obwohl es längst dämmerte, brannte kein Licht hinter den Fenstern, Pferde oder Kutschen suchte man vergebens vor dem Inn oder im Hof, und auch von Bediensteten oder Gästen war weit und breit nichts zu sehen. Bess musste daran denken, dass dies der Ort war, an dem Albrecht Niemeyer gewohnt hatte und Matthew Lyon gestorben war. Seit dem Tod ihres Mannes hatte sie das Little Stanmore Inn wie einen verfluchten Ort gemieden, und als sie jetzt die Schänke betrat, fühlte sie sich wie ein Eindringling, wie ein Störenfried.
    Im Schankraum jedoch nahm überhaupt niemand von ihr Kenntnis. Im schummerigen Halbdunkel sah Bess ein junges, recht zierliches Mädchen hinter dem Schanktisch sowie zwei einfach bis ärmlich gekleidete Männer, dem Anschein nach Kleinbauern oder Tagelöhner, auf der anderen Seite der Theke. Und in einer Ecke des Raumes war ein dritter Mann auf seiner Bank eingeschlafen und gab laute Schnarchgeräusche von sich.
    Der Raum war so niedrig, dass Bess auf dem Weg zum Schanktisch beinahe mit der Stirn gegen die Deckenbohlen gestoßen wäre. Sie grüßte das Mädchen hinter der Theke, dessen Alter sie auf sechzehn Jahre schätzte, und fragte, ob noch ein Zimmer im Inn frei sei.
    Als Antwort lachte das Mädchen, breitete die Arme aus und drehte sich einmal um die eigene Achse. »Ihr habt die freie Auswahl«, sagte sie und schnaubte abfällig. »Shilling Sixpence, die Woche. Einschließlich Essen und Wasser. Porter und Gin kosten extra.«
    Bess nickte und wunderte sich über den geringen Preis. »Nicht viel los?«, fragte sie und stellte ihre Reisetasche ab.
    »Ay, Ma’am.«
    »Als ich das letzte Mal in der Gegend war, hat’s hier nur so von Gästen gewimmelt«, meinte Bess verwundert. »Die meisten waren Musiker und Künstler. Von Whitchurch und Cannons, wenn ich mich nicht irre.«
    »Lange her«, knurrte einer der Männer am Schanktisch. »Gibt keine Musikkapelle mehr in der Kirche und keine Musiker. Nur noch ’ne hübsche Orgel, auf der niemand spielt. Die fetten Jahre sind vorbei. Jetzt muss auch der Herzog kleine Brötchen backen. Und von Musik wird niemand satt.«
    »Was treibt Euch nach Stanmore?«, fragte der zweite Mann und fügte anzüglich lachend und augenzwinkernd hinzu: »So ganz allein?«
    »Wer sagt, dass ich allein bin?«, antwortete Bess knapp.
    »Ihr kommt mir bekannt vor«, sagte der andere und kratzte sich über das stoppelige Kinn. »Stammt Ihr aus der Gegend?«
    »Bist du Tessa Milton?«, wandte sich Bess an das Schankmädchen, um nicht auf die Frage antworten zu müssen. »Ich soll dich von Violet

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