Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)
eng, man musste um viele Ecken gehen, und da kam er mir plötzlich entgegen. Mich beeindruckte dieser mächtige Schädel und der relativ dazu doch schmale Körper, das fast Zierliche, das blieb bei mir hängen.
STERN Aber gesprochen haben Sie ihn nicht?
FISCHER Nein, niemals! In Erinnerung ist mir aber ein kurzes Gespräch mit dem alten Alfred Dregger. Wir waren nun wirklich alles andere als Freunde. Er war in seiner letzten Legislaturperiode, ich in meiner ersten, es muss so um diese Jahreszeit gewesen sein. Dregger saß in Malerrobe mit Malerhut und Joppe im Innenhof des alten deutschen Bundestages in Bonn und malte. Ich ging auf ihn zu und sagte zu ihm: «Als wir uns 1983 vorgestellt haben, dachte ich, das ist jetzt die fleischgewordene deutsche Reaktion.» Da lachte er und sagte: «Ja, und ich dachte, das sind die Vertreter der Fünften Kolonne Moskaus.»
STERN Die letzten Ausläufer der ideologischen Konfrontation sozusagen. Aber wenn nicht Dienst – ich kann gut verstehen, was Sie meinen –, was dann? Da komme ich noch mal zurück auf Max Webers «Politik als Beruf». Der Gedanke des Berufs, also das, was man auf Englisch calling nennt, ist ja in der Politik – und nicht nur da – mehr oder weniger verschwunden.
FISCHER Was Max Weber meinte, ist eigentlich Berufung. Der Berufspolitiker ist aber wohl eher das Gegenteil von calling.
STERN Das ist genau das Gegenteil. Calling ist Berufung. Und zur Politik berufen fühlen sich heute wohl nur wenige Politiker.
FISCHER Trotzdem wird Weber zu Tode zitiert. So oft, wie das dicke Brett zitiert wird, so dick kann es gar nicht gewesen sein.
STERN Na, hoffentlich wird er wenigstens gelesen. Die Berufung fehlt auch anderswo. Sie fehlt auch im Universitätsleben, wo sie einmal zu den Voraussetzungen gehörte.
FISCHER Heute wird man Professor, weil man genau weiß, wie die einzelnen Karriereschritte aussehen und wann man dran ist. Aber genauso ist es in der Politik auch; auch hier denken talentierte junge Leute heute nicht anders. Ich habe einmal zu mir selbst gesagt, sie haben unseren Pragmatismus geerbt, aber nicht unsere Leidenschaft. Wer mit 16, 17 in die Jugendorganisation einer Partei eintritt und nach einigen Jahren immer noch dabei ist, weiß, wie es läuft.
STERN Würden Sie das bei den ganz Jungen auch so sehen? Die würden sich wahrscheinlich gegen diese Aussage wehren und sagen, das kann man so nicht stehen lassen, was die beiden älteren Herrschaften da jetzt so formulieren, es gibt kein calling mehr.
FISCHER Ich werde keine Namen nennen. Es gibt talentierte, wirklich sehr talentierte junge Leute, aber was mir aufgefallen ist …
STERN Sie reden von Ihrer eigenen Partei?
FISCHER Ich nenne weder Namen noch Parteien. Aber was mir aufgefallen ist: Dass selbst jemand, der sehr großes Talent hat, heute in Karriereschritten denkt. Wenn ich sage, Mensch, jetzt musst du aber, heißt es nur: Und was bedeutet das dann für mich? Wie ich gerade lerne, ist das offensichtlich in der Wissenschaft auch nicht anders. Also spricht vieles dafür, dass es sich um ein breites gesellschaftliches Phänomen handelt.
STERN Das Sie im Bereich der Politik als Entpolitisierung bezeichnet haben. Da komme ich dann doch noch mal auf das Dienen. Ich verstehe sehr gut, was Ihnen an dem Begriff nicht gefällt, aber gemeint ist ja wohl das Bewusstsein, dass es eine Sache gibt, die wichtiger ist als meine persönlichen Wünsche und Ziele, eine Sache, die sozusagen über mir steht und die ich als Grundlage meines Handelns akzeptiere.
FISCHER Ja, aber die mich auch mitreißt und die andere mitreißt. Bitte, es gibt unterschiedliche Stufen von Politik, ich rede jetzt über die Alphastufe. Letztendlich ist es das Ziel, dorthin zu kommen. Das Ego mag eine Rolle spielen – geschenkt. Aber dorthin zu kommen, auf die höchste Stufe, ist letztendlich das Faszinosum für einen Politiker. Dass du Geschichte im Entstehen mit beeinflussen und gestalten kannst, das ist der eigentliche politische Antrieb.
STERN Da möchte ich hinzufügen, dass es sicher auch viele Politiker gibt, vielleicht sogar eine Mehrheit, die es als kurios empfinden würden, wenn man von ihnen verlangt, sie sollten in ihrem Beruf immer an die Geschichte denken, die sie mitgestalten.
FISCHER Entschuldigung, das meine ich nicht. Wir haben nur acht Bundeskanzler seit 1949, das ist nicht viel. Und wenn sie dahin wollen und
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