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Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Titel: Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joschka Fischer , Fritz Stern
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vom Ende der Geschichte, Fukuyamas Ewigkeitsgarantie. Und plötzlich könnten wir in einer ähnlichen Situation sein wie unsere Eltern. Sie haben die These von den fünf Deutschland formuliert; jetzt müssen Sie mir auch sagen, wie sähe das sechste Deutschland aus?
    STERN    Da verlangen Sie für den Moment dann doch zu viel. Ich kann mich nur damit entschuldigen, dass ich Historiker bin und in meinem Buch «Fünf Deutschland und ein Leben» von der Vergangenheit rede.
    FISCHER    Bei genauerem Nachdenken behagt mir die Formulierung vom posteuropäischen Deutschland so wenig wie Ihnen. Das ist eher die intellektuelle Variante von Sarrazin.
    STERN    Ein solches Deutschland wird es wahrscheinlich gar nicht geben. Eher wird Sachsen mit Tschechien zusammengehen, und Bayern wäre endlich für sich.
    FISCHER    Nee, nee, mit Österreich zusammen, die Strafe muss sein. – Im Ernst, Fritz: Wenn man das 20. Jahrhundert bilanziert, dann haben wir, meine Generation, meine und die folgende, die glückliche Seite erwischt. Aber zu welchem Preis? Am Ende des Jahrhunderts ging alles gut aus: Deutschland ist wiedervereinigt, die Europäer sind reicher denn je, Krieg ist höchstens an der Peripherie und nicht mal dort im Augenblick noch eine Option, der Frieden ist ausgebrochen – nur zu welchem Preis? Welchen Preis hat Europa im 20. Jahrhundert bezahlen müssen, um dorthin zu kommen?
    STERN    Aber dann kann man gleichzeitig fragen: Welchen Preis müsste Europa bezahlen, wenn es jetzt auseinander fällt? Ich fürchte, genau den gleichen Preis, den es kostete, Europa aufzubauen. Feindseligkeiten, die mit Gewalt ausgetragen werden, sind dann ebenso denkbar wie Bürgerkriege.
    FISCHER    Die Frage ist doch, was passiert, wenn die europäische Mittelklasse in den Abstiegsstrudel kommt. Innereuropäische Kriege sehe ich nicht. Darüber sprachen wir ja schon, dass die Europäer, zumal die größeren Staaten, dazu nicht mehr in der Lage sind. An der Peripherie, da allerdings kann sich vieles gewaltsam entladen, auch innerhalb einzelner Staaten kann es zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen kommen. Wir hatten solche Entwicklungen, wo eine ganze Mittelklasse abgestürzt ist und pauperisiert wurde, in Argentinien und Brasilien.
    STERN    Ich sehe noch ein anderes Gespenst, das ich als bedrohlich empfinde, seit ich da war, und das ist Singapur. Das Singapur-Modell ist ganz schlicht: Die Wirtschaft floriert unter einem extrem autoritären, repressiven System. Ein solches Modell könnte nach einem Kollaps für manch einen in Europa sehr attraktiv werden.
    FISCHER    Ich glaube, wenn der Euroraum erst einmal auseinandergebrochen ist, wird der wirtschaftliche Erfolg in Europa gefährdet sein. Es ist heute schon absehbar, dass die Strukturbedingungen dann sehr schlecht sein werden, weil die Vorteile des gemeinsamen Marktes und der gemeinsamen Währung eben doch sehr groß sind. Renationalisierung und Protektionismus würden gewaltige Mengen Sand ins Wirtschaftsgetriebe kippen.
    STERN    Richtig. Und die Versuchung, dann durch eine sanfte Diktatur, wie das in Singapur genannt wird, nachzuhelfen, wird umso größer sein.
    FISCHER    Die Welt verändert sich gegenwärtig mit großem Tempo – nicht nur der für uns entscheidende Partner USA, sondern auch China, Brasilien, andere Akteure auf globaler Ebene. Wenn die Europäer die gegenwärtige Krise meistern würden und eines Tages wiederkämen, was ja nicht auszuschließen ist, kämen sie zu völlig anderen Bedingungen wieder, in einer völlig veränderten Welt, das darf man nicht vergessen. Die Frage ist, ob der Westen diese Veränderungen aushält.
    STERN    Ja, wenn es am Ende überhaupt noch den Westen gibt.
    FISCHER    Was seit der industriellen Revolution an europäisch-amerikanischer Dominanz galt, geht in unseren Tagen zu Ende. Insofern ist es gerade jetzt eine furchtbar schlechte Idee, sich von der Weltbühne abzumelden. Wir werden jedenfalls sehr starke Nerven brauchen, weil ich glaube, wenn sich noch etwas zum Positiven bewegt, dann erst im allerletzten Augenblick. Das ist die gute Botschaft. Die schlechte Botschaft ist, der allerletzte Augenblick könnte auch zum großen Knall führen, das liegt im Wesen des allerletzten Augenblicks.
    STERN    Ich glaube nicht, dass man sich von der Weltbühne «abmeldet». Ich sehe jedenfalls keinen Vorhang, wo wir abtreten und eine andere Macht sich «vorstellt». Ansonsten bin ich ein bisschen unglücklich mit

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