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Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Titel: Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joschka Fischer , Fritz Stern
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reinkommen und dann auch wiedergewählt werden wollen, um nicht nur eine Fußnote in der Geschichte ihres Landes zu bleiben, dann brauchen Sie nicht nur ein gewisses Selbstbewusstsein, sondern Sie müssen irgendwann auch die Frage beantworten, ob der Ertrag den Aufwand lohnt. Helmut Kohl konnte es sich nicht aussuchen, die Einheit war da, und er musste handeln. Dass er dann den Schritt mit dem Euro gemacht hat, das wird voll bei ihm abgebucht. Dafür bewundere ich ihn. Bei Gerhard Schröder war es auch klar: Er hat mit der Kosovo-Entscheidung und der Irakkrieg-Entscheidung und dann mit Hartz IV seinen Eintrag gemacht. Wenn Angela Merkel übermorgen nicht wiedergewählt wird, was wird dann von ihr bleiben?
    STERN    Zunächst einmal eine überragende Leistung: Ostdeutsche, Frau, von der Ausbildung her Physikerin, und sie hat sich durchgesetzt – und wie! Aber es ist viel zu früh, Bilanz zu ziehen.
    FISCHER    Da spricht die Weisheit des Historikers und nicht die kurze Sicht des Politikers im Getümmel! Was bleibt, ist doch diese Frage, die sich automatisch stellt, wenn man oben angekommen ist. Und da kommt man auf der Stelle mit der Pflicht über Kreuz, mit dem, was Sie das Dienen nennen.
    STERN    Helmut Schmidt würde es übrigens ablehnen, selbst seine Kanzlerschaft auf ihre historische Bedeutung zu überprüfen. Das wäre auch anmaßend. Er würde über seine Rolle in der Geschichte auch nicht gern mit jedermann öffentlich diskutieren.
    FISCHER    Aber Sie können mir nicht erzählen, dass ein Charakter wie Helmut Schmidt dafür nicht die Zeit hat. Was glauben Sie, wie oft der über seine Rolle in der Geschichte nachgedacht hat! Zumal er sich allen Kanzlern, mit Ausnahme Adenauers, überlegen fühlt. Aber er hatte nun das Glück nicht, oder er hatte das Glück – je nach Betrachtungsweise –, dass er vom wehenden Mantel der Geschichte nicht in dem Maße berührt wurde, wie es bei der Deutschen Einheit oder bei den Ostverträgen oder beim Friedensnobelpreis der Fall war.
    STERN    Ein Kanzler kann sich nicht das Ziel setzen, Eingang in die Geschichtsbücher zu finden. Das scheint mir ahistorisch gedacht.
    FISCHER    Na ja, die tun das aber dennoch. Ich hatte ja nun das Privileg, sieben Jahre aus allernächster Nähe einen Kanzler beobachten zu können, und hatte auch die Kapazität frei, mir meine Gedanken jenseits von Gerhard Schröder zu machen, also über die Funktionsmechanismen nachzudenken. Was macht dieses Amt mit einem Menschen? Wenn ich heute wieder in dieser Situation wäre und mich jetzt mit dem Problem Europa befassen müsste, würde ich mit dem Kanzler oder der Kanzlerin nur im Rahmen einer größeren historischen Perspektive debattieren. Du musst schon historisch tief verwurzelt sein und wissen, was du mit Europa meinst und wo Deutschland mit Europa hin soll, damit du im Alltag pragmatische Entscheidungen treffen kannst, oder aber du verhedderst dich.
    STERN    Da kann ich nur hundertprozentig beipflichten, aber die Entpolitisierung geht zusammen mit einer Enthistorisierung. Die Leute sind an der Geschichte nicht mehr interessiert.
    FISCHER    Deswegen noch einmal meine Frage, Fritz. Sie sind in Ihrem Leben auf fünf Deutschländer gekommen. Sind wir jetzt am Beginn eines sechsten, eines posteuropäischen Deutschlands oder post-EU? Was wäre die Konsequenz für Deutschland, wenn das europäische Einigungsprojekt scheitern würde? Das Land wäre vermutlich erneut in einer sehr schwierigen Situation. Zu klein für die Welt, zu groß für Europa, daran hat sich seit 1871 nichts geändert.
    STERN    Der Erfolg der Bundesrepublik ist eng verbunden mit dem Erfolg von Europa, mit der Tatsache, dass es ein Europa gegeben hat und gibt, in das Deutschland eingebunden war und ist. Wenn Europa wegfällt, wüsste ich nicht, wie man Deutschland definieren soll. Ein posteuropäisches Deutschland, wie Sie es eben genannt haben, ist für mich ein absoluter Schreckensgedanke.
    FISCHER    Wir können es aber nicht ausschließen. Sie kennen das Buch von Stefan Zweig mit dem schönen Titel «Die Welt von gestern». Ich habe es nie in die Hand genommen, es war von gestern. Jetzt lese ich es, und vieles klingt plötzlich furchtbar aktuell. Dass eine Welt verschwinden kann, ist für meine Generation völlig unvorstellbar, aber unsere Eltern und Großeltern haben das zum Teil mehrfach erlebt, auch die Ostdeutschen haben es erlebt und die Osteuropäer. Aber bei uns galt lange Zeit der Satz

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