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Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Titel: Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joschka Fischer , Fritz Stern
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vielen fast schon als Lebenszweck erscheint. Die Macht des Geldes steht heute schon in einem ernstzunehmenden Spannungsverhältnis zur Demokratie, und auch deshalb fehlt manch einem vielleicht die Motivation, den politischen Weg einzuschlagen. In Amerika ist es inzwischen zu einem ganz kritischen Punkt geworden, die Rolle des Geldes in US-Wahlkämpfen ist grotesk.
    FISCHER    Aber das hieße, dass die demokratische Linke besser aufgestellt sein müsste als die demokratische Rechte, und das ist nicht so. Was die jungen Leute in den Start up’s umtreibt, ist weniger das Geld als die Lust auf Abenteuer und Erfolg, Politik heute ist ziemlich austauschbar. Das meine ich mit Entideologisierung. Wo finden denn heute die großen Kontroversen statt? Wer schaut sich heute noch Bundestagsdebatten an? In meiner Frankfurter Anarchozeit, wenn Strauß, Wehner, Brandt in den Haushaltsdebatten gesprochen haben, saß man vorm Fernsehen, hatte vorher ein kaltes Bier geholt und genoss das. Auch wenn man mit dem Staat an sich nichts zu tun hatte, die Debatten machten richtigen Spaß.
    STERN    Von Spaß ist heute leider in der Politik nur noch wenig zu bemerken. Wenn man bedenkt, in was für einer Krise Europa heute steckt, müsste mindestens die gleiche Leidenschaft wie damals spürbar sein. Selbst an Wirklichkeitssinn scheint es zu fehlen. Das liegt möglicherweise auch an den neuen Kommunikationsformen. Jeden Tag wird ein neues Thema hochgekocht. Da ist es sehr schwer, über einen längeren Zeitraum eine ernsthafte Debatte mit politischer Absicht zu führen. Alles wird sofort zerredet und tendiert zu einer ungeheuren Oberflächlichkeit.
    FISCHER    Sie beschreiben eine Transformation der Kommunikationsmittel. Ob diese Transformation auch eine qualitative Veränderung bedeutet, müssten wir gesondert untersuchen. Technisch begründete Veränderungen gab’s ja in der Geschichte der öffentlichen Debatten immer wieder, die Einführung des Rundfunks und dann des Fernsehens, das war ja jeweils eine technische Zäsur. Und jetzt haben wir also die Blogs. Ich meine, wer liest die vielen Blogs, ich nicht. Irgendjemand muss sie ja lesen, aber was diese Leute sonst machen, weiß ich nicht. Und wer schreibt diese vielen Blogs? Mir wäre das viel zu anstrengend.
    STERN    Vor allem gehen sie an der Öffentlichkeit vorbei, für die öffentliche Debatte sind diese Blogs wohl meistens verloren. Es ist eine virtuelle Welt, daher auch ihre Flüchtigkeit. – Welche Rolle hat in Ihren Augen eigentlich das Internet im Fall Guttenberg gespielt?
    FISCHER    Aus meiner Sicht ist Guttenberg nicht an den Bloggern gescheitert, sondern am Aufstand der bundesrepublikanischen Meritokratie, an diesen zehntausenden von Doktoren, die sagten, von dir reichem Schnösel lassen wir uns unsere akademische Leistung nicht kaputt machen. Offensichtlich haben Guttenberg und auch die Kanzlerin gedacht, was in Italien geht, geht hier auch. Ich bezweifele, dass so etwas heute in Italien noch ginge, aber in Berlusconis Italien war halt vieles möglich. Als die Universitäten aufstanden, an erster Stelle der Rechtsprofessor Lepsius aus Bayreuth, war es mit Guttenberg eigentlich vorbei. Er hat meiner Meinung nach einen großen Fehler gemacht, als er darauf verwies, es wäre ja alles so schwer gewesen für ihn als jungen Vater. Da sah ich tausende Doktoranden und Doktoren vor mir und hörte ihre Flüche und Verwünschungen, was dieser Pinkel denn eigentlich glaubt, unter solchen Bedingungen wie der hätten wir gern gearbeitet.
    STERN    Na absolut. Ja, die Entschuldigungen sind oft schlimmer als der Vorfall selbst. Und außerdem ging das an die Glaubwürdigkeit und die Ehre der Wissenschaft.
    FISCHER    Das ging ans Eingemachte. Wenn ein deutscher Doktor nichts mehr wert ist – und darum ist es gegangen –, dann hätte die Meritokratie eines ihrer wichtigsten Unterscheidungsmerkmale abhaken können, und das ging halt nicht in Deutschland. Deutschland ist letztendlich eine Meritokratie – und das meine ich ausgesprochen positiv: eine Gesellschaft, in der persönliche Leistung und persönlich erworbener Verdienst zählen und wo man sich Leistungsprüfungen stellen muss.
    STERN    Viele sahen in Guttenberg schon den künftigen Kanzler. Ich habe mich gelegentlich gefragt, ob darin vielleicht auch die Sehnsucht der Deutschen nach einer Führungspersönlichkeit zum Ausdruck kam. Führung im Sinne von Leadership. Ob Guttenberg ein Leader war oder nicht,

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