Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)
ich als Kind in meinem Elternhaus einige sozialdemokratische Landtagsabgeordnete kennengelernt hatte wie Ernst Hamburger oder Hermann Lüdemann. Ich erinnerte mich an die Kämpfe gegen die Nationalsozialisten vor 1933, ich habe ja die Straßenschlachten noch gesehen. Sogar das andere Deutschland, das dann verlorene Deutschland hatte ich miterlebt, und auch das war eine ungeheuer wichtige Jugenderinnerung. Die Gedenkfeier zum zehnten Jahrestag des Attentats habe ich schon erwähnt.
FISCHER Haben Sie den 20. Juli 1944 in Amerika eigentlich wahrgenommen?
STERN Nein. Ich meine, ich habe darüber in Zeitungen gelesen, aber da hieß es nur, dass sich die Nazis jetzt gegenseitig abschlachten, von einem wirklichen Widerstand war da nicht die Rede. Später wurde der 20. Juli für mich ganz wichtig, lebenswichtig, aber nicht am 21. Juli 1944.
FISCHER Lebenswichtig – können Sie das auf einen Begriff bringen, warum der Widerstand für Sie so wichtig wurde?
STERN Wahrscheinlich aus der Sehnsucht – ich sage das jetzt in Ihrer Gegenwart, Joschka, mit Scheu – wahrscheinlich aus der Sehnsucht, selber mal im Widerstand zu sein, selber mal zeigen zu können, dass man sich für etwas einsetzt, egal, was es kostet. Dieses Ideal geht zurück auf Geschichten aus meiner Kindheit, als ich im Zusammenhang mit Hermann Lüdemann und Ernst Eckstein zum ersten Mal von Folter hörte. Ich weiß nicht, ob Ihnen Eckstein ein Begriff ist. Willy Brandt war ganz empört, als ich ihn in den sechziger Jahren einmal fragte, ob ihm der Name Eckstein etwas sagt. «Ob der mir was sagt? Für einen Fond für Untergrundzwecke haben wir Geld gesammelt, und der Fond trug Ecksteins Namen. Eckstein war Führer der SAP in Breslau.» Die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands stand links von der SPD, rechts von der KPD, und im Mai 1933 wurde Eckstein mehr oder weniger ermordet, also festgenommen, und dann in der Haft…
FISCHER In Dürrgoy wurden viele zu Tode geprügelt.
STERN Ja. Schon 1932 hatte man eine Bombe in sein Haus geworfen. Für ein Kind war es schrecklich, solche Geschichten zu hören. Aber gerade diese Geschichten waren es, die mich früh politisiert haben. Ich kannte viele Altersgenossen, auch später in der Emigration, die das alles viel weniger mitgenommen hat.
FISCHER Fritz, gestatten Sie mir hier einen Schwenk in die Gegenwart. Es gibt in Deutschland ein tiefsitzendes Gefühl: Das muss man doch jetzt mal sagen dürfen.
STERN Das ist ein schrecklicher Satz.
FISCHER Als wenn dir irgendjemand das verbieten würde! Da wir in Deutschland sind, folgt die Weinerlichkeit gleich hinterher: Man darf bestimmte Dinge nicht sagen, weil man dann öffentlich attackiert wird. Vieles, was dann vorgetragen wird, ist in der Sache von wenig bis keiner Kenntnis getrübt. Aber natürlich haftet jeder für das, was er sagt, das gilt vor allem unter erwachsenen Leuten.
STERN Deswegen habe ich in meinem Interview in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» über Günter Grass auch gesagt: «der Nicht-Erwachsene».
FISCHER Eines ist offensichtlich, die Vergangenheit beschäftigt ihn unglaublich, sonst hätte er das Gedicht nicht geschrieben.
STERN Das so genannte Gedicht. Was man ihm meines Erachtens wirklich vorwerfen muss, ist, dass er über seine eigene Vergangenheit so lang geschwiegen hat. Wenn er sich als Moralist aufführt und als Gewissen der Nation, dann kann er nicht über seine eigene …
FISCHER Dabei hätte er das ohne weiteres machen können. Ich habe die Details nicht im Kopf, aber er gehörte offensichtlich zum «letzten Kanonenfutter», war 16, als er da in Uniform gesteckt wurde. Die Jungs waren durch die HJ und die ganze Propaganda, durch Eltern, Schule und so weiter natürlich voll auf die Nazi-Ideologie ausgerichtet, und er hätte jederzeit sagen können: «Das war ich, aber daraus habe ich gelernt. Das passiert mir nie wieder. Und deswegen bin ich für das Nie-wieder.» Das hätte jeder verstanden.
STERN Und warum hat er Ihrer Meinung nach so lange geschwiegen?
FISCHER Ich weiß es nicht.
STERN Von mir aus hätte er noch länger schweigen können.
FISCHER Was treibt ihn zu so komischen Gedichten?
STERN Mich hat das Ganze an die Walser-Debatte erinnert. Der war zwar nicht in der SS – jedenfalls wissen wir davon nichts –, aber er war offenbar von dem gleichen Bedürfnis getrieben, Zeugnis abzulegen, Zeugnis von
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