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Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Titel: Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joschka Fischer , Fritz Stern
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dem enormen Druck der Geschichte, der angeblich auf dieser Generation lastet. So jedenfalls scheinen sie das zu sehen. Dann zündeln sie ein bisschen: Jetzt muss mal Schluss sein mit diesen ewigen Schuldzuweisungen, und hinterher sind sie dann falsch verstanden worden.
    FISCHER    Du entkommst der Geschichte deines Landes nicht! In dem Moment, wo du dich als Deutscher definierst, bist du Teil der deutschen Geschichte. Die ganzen Schlussstrichdebatten endeten ja auch immer auf dieselbe Art und Weise, nämlich krachend gegen die Wand.
    STERN    Ohne Schlussstrich.
    FISCHER    Ja, ohne Schlussstrich. Es gibt keinen Schlussstrich. Es ist erst zu Ende, wenn es zu Ende ist. Und dass die Bundesrepublik Deutschland international so respektiert wird, hängt eben damit zusammen, dass sie sich ihrer Geschichte uneingeschränkt gestellt hat, mit allen Schmerzen, Widersprüchen, mit allem Ach und Weh, mit allem, was dazugehört – aber uneingeschränkt.
    STERN    Etwas langsam zunächst, dann aber besser als andere. Deswegen war die Walser-Rede so ein Rückfall.
    FISCHER    Ich habe das für einen ziemlichen Quatsch gehalten, aber ich habe nichts anderes erwartet, das war ja der Walser, der gerade erst die Nation wieder entdeckt hatte und Ähnliches mehr – und da bin ich grundsätzlich misstrauisch. Begriffe wie Auschwitz und Keule – ich meine, Auschwitz ist mehr als eine Keule, etwas völlig anderes.
    STERN    Weiß Gott!
    FISCHER    Und die Vorstellung, wir müssten da was fürs Ausland tun – «Ausland» in den beliebten Anführungszeichen –, das ist auch so ein gängiges deutsches Klischee. Völliger Blödsinn, wir tun es für uns.
    STERN    Er wollte, glaube ich, darauf hinaus, zu sagen: Wir tun es, weil man es von uns erwartet. Ich möchte aber selber bestimmen, wann und bei welcher Gelegenheit ich mich erinnere.
    FISCHER    Ja, soll er doch, wer schreibt ihm denn was vor? Wir sind ja nicht in der Kirche. Selbst in der Kirche musst du nicht beten oder mitbeten, du kannst da auch einfach nur rumstehen; du solltest vielleicht nicht gerade rauchen, trinken oder sonst etwas, das gebietet die Rücksichtnahme und der Anstand vor dem Glauben der anderen, aber ansonsten zwingt dich selbst in einer Kirche keiner. Und was die Schuldfrage angeht: Wer das nicht will, lässt es eben. Wir sind ein freies Land, keiner wird gezwungen, sich damit auseinanderzusetzen. Nein, ich halte das alles für vorgeschoben. Da musste einer seelisch Dampf ablassen, aus irgendwelchen Gründen, die ich nicht kenne.
    STERN    Ich muss sagen, was ich von ihm kannte, ging ja schon in diese Richtung, deshalb hat mich die Rede nicht wirklich überrascht. Ich habe irgendwie verstanden, was er wollte, auch wenn er es schrecklich ausgedrückt hat. Aber seine Behauptung, die Deutschen hätten das Verlangen, mit diesem Thema endlich in Ruhe gelassen zu werden, das sehe ich nicht.
    FISCHER    Ich glaube, seine Botschaft war nicht: Lasst uns endlich damit in Ruhe. Sondern er stellte die Frage dialektisch: Können wir uns selbst damit in Ruhe lassen? Die Deutschen würden aber einen Riesenfehler machen, wenn sie nicht akzeptierten, dass dies ihre Geschichte ist. Es ist nicht die ganze deutsche Geschichte – es wäre albern, das zu behaupten –, aber die ganze deutsche Geschichte geht durch dieses Brennglas hindurch.
    STERN    Das ist absolut richtig. Die NS-Zeit kam nicht rein zufällig, und sie kann auch nicht durch Versailles und Weltwirtschaftskrise vollständig erklärt werden.
    FISCHER    Das ist für mich der entscheidende Punkt. Und dabei geht es um uns, vor allen Dingen um die Nachgeborenen. Wir werden uns das immer wieder neu aneignen müssen. Aber niemand wird zu irgendetwas gezwungen. Du kannst als Deutscher dein Leben leben, ohne dass du zu irgendeinem Gedächtnis gezwungen wirst.
    STERN    Ein Tabu gibt es: den Holocaust zu leugnen.
    FISCHER    Das ist kein Tabu, sondern eine Straftat. Und dann kommen periodisch immer wieder Leute und tönen: Das wird man doch mal sagen dürfen.
    STERN    In ihren Augen bezeugt es einen gewissen Mut, zu sagen: Ich breche ein Tabu.
    FISCHER    Es gibt kein Tabu. Das ist bloße Attitüde. Die NPD macht das tagtäglich. Neun zugewanderte Mitbürger und eine Polizistin mussten dafür ihr Leben lassen, und ihre neonazistischen Mörder konnten jahrelang unerkannt weiter morden. Vielleicht die schwerste Niederlage für die deutsche Demokratie. Es ist zum Schämen! Diese

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