Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)
die Schulter. Das war für viele Studenten, die das gesehen haben, dieser Semi-Faschist Stern zusammen mit dem berühmten Allen Ginsberg Arm in Arm …
FISCHER Der ja wild aussah damals.
STERN Nicht so wild wie später. Aber trotzdem für jeden erkennbar. Kollegen und Studenten waren ziemlich verblüfft, um es milde auszudrücken, und ich bin überzeugt, dass Ginsberg mir bewusst den Arm um die Schulter legte, dass er Solidarität bekunden wollte. Er war von einer großen, großen Menschlichkeit, das muss ich sagen.
FISCHER Sie waren doch sehr gegensätzlich, Allen und Sie. Auf der einen Seite der – gestatten Sie mir, dass ich das sage – sehr deutsche …
STERN Nein, nein, das interessiert mich.
FISCHER Sehr deutsch wirkende Historiker.
STERN Nein, ich war Student.
FISCHER Ja, Student, aber dennoch, ich meine, Sie gingen ja in eine völlig andere Richtung als Allen, der doch mehr als Dichter auf einer emotionalen Weltsicht unterwegs war.
STERN Joschka, können junge Historiker nicht auch poetische Träume haben? Und könnte es nicht sein, dass er sich für mich interessierte, für meine Geschichte, für meine Familie. Ich glaube, wir entwickelten uns erst später gegensätzlich. 1943, als wir uns kennen lernten, waren wir in dem Sinne noch unreif, zu unreif, um gegensätzlich zu sein.
FISCHER Young Firebrands.
STERN Ja.
FISCHER Bleiben wir mal eben bei diesem Jahr 1943. Das war ja das Jahr der großen Wende des Krieges, und zwar an beiden Kriegsschauplätzen, sowohl dem europäischen als auch dem pazifischen. Wie war das für Sie als junger Amerikaner mit starken europäischen Wurzeln, im letzten Augenblick aus Deutschland entkommen? Wie müssen wir uns den Studenten Fritz Stern vorstellen, der sich gerade an der Universität einschreibt, wie hat er die Nachrichten aus Europa aufgenommen, und zwar nicht nur intellektuell, sondern emotional? Wie haben diese Nachrichten seinen Alltag in New York berührt? Es ging ja um verdammt viel.
STERN Es ging um verdammt viel, um alles, und das war mir vom ersten Augenblick an klar. Wir sind im Oktober 1938 in New York angekommen, im November kam der deutsche Pogrom, und im Januar 1939 hatte ich bereits ein Erlebnis – ich war zwölf Jahre alt –, das mich furchtbar aufwühlte. Ich wusste durch die Lektüre der Zeitungen zwar ungefähr, was los ist, aber erst im Januar begriff ich das Ausmaß der Gräuel. Der Mieter, der in Breslau unter uns gewohnt hatte, ein Patient meines Vaters, besuchte uns in unserer kleinen Wohnung in Queens. Er hatte ganz kurz geschorene Haare und erzählte nur wenig, aber der kurze Bericht über seine Haft in Buchenwald machte mir alles völlig präsent. Am Tag, an dem Paris fiel, habe ich – ich würde das Wort sonst nicht benutzen – die Schule geschwänzt, ich konnte einfach nicht zur Schule gehen am Nachmittag.
FISCHER So sehr hat Sie das erschüttert?
STERN Ja, erschüttert. Ich muss dazu sagen, dass ich eine besondere Beziehung zu Paris hatte, Paris war ein Teil meiner Emigrationsgeschichte. Mein Vater hat bereits im späten Frühjahr 1933 die Notwendigkeit einer Auswanderung gesehen und ging nach Paris, um nach einer Anstellung in einer Klinik Ausschau zu halten. Meine Eltern holten mich damals nach Paris, und dort habe ich mit kindlichem Enthusiasmus den französischen Traum in mich aufgesogen, die Revolution und Napoleon, und mein Vater hat Heine vorgelesen. Später habe ich in New York Geld gesammelt für Flüchtlinge, die vor Franco aus Spanien nach Frankreich hatten fliehen können. Bei jeder Nachricht aus Europa hat man mitgezittert. Ich erinnere mich besonders gut an den Herbst 1942, El Alamein, an Stalingrad, Winter 1942/43, und an den Sturz Mussolinis im Sommer 1943.
FISCHER Wann hatten Sie zum ersten Mal den Eindruck, dass die Deutschen den Krieg verlieren werden?
STERN Ich sah die Gefahr, aber irgendwie habe ich nie an einen deutschen Sieg geglaubt. Bestärkt wurde man durch die Großen, Churchill und Roosevelt. Dann kam Stalingrad. Von da ab zeichnete sich die Niederlage der Nazis ab. Die Nazis oder die Deutschen – ich kann nicht behaupten, dass ich damals einen Unterschied gemacht habe zwischen beiden.
FISCHER Das war auch schwer.
STERN Ja, es war ein langsamer Prozess. Erst Mitte der fünfziger Jahre fing ich an, einen Unterschied zwischen Deutschen und Nazis zu machen. Geholfen hat mir dabei, dass
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