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Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Titel: Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joschka Fischer , Fritz Stern
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rhetorische Figur, das wird man ja noch mal sagen dürfen, gab es in meiner Jugend übrigens nicht. Noch in den sechziger und siebziger Jahren haben die meisten so geredet, wie sie es gelernt hatten und wie es auch ihrer Überzeugung entsprach: Es war nicht alles schlecht, Hitler hat die Arbeitslosigkeit beseitigt, er hat die Autobahn gebaut und was weiß ich.
    STERN    Ich erinnere mich an den Bundestagspräsidenten Jenninger …
    FISCHER    Also, wenn heute ein Politiker sagen würde, das Debakel mit Schönefeld, das wäre beim Bau von Tempelhof nicht passiert, würde er ein echtes Problem bekommen. Noch jedes Mal, wenn in der Politik einer meinte, auf die Nazis oder den «Führer» rekurrieren zu müssen, ist das schiefgegangen, in der Regel war das die Abkürzung zum Rücktritt.
    STERN    Und das ist verständlich.
    FISCHER    Obwohl der Text der Rede von Jenninger ganz ordentlich war. Das sage nicht ich, das hat Ignatz Bubis gesagt, der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, nachdem er die Rede gelesen hatte. Er wundere sich über die Reaktion. Aber in Deutschland konnten Sie als führender Repräsentant von Parlament und Staat schon scheitern, wenn Sie nicht in der Lage waren, Anführungszeichen richtig zu intonieren. Jenninger hat es gut gemeint, war aber nicht in der Lage, einen so schwierigen Text adäquat vorzulesen. Hinzu kam, dass diese Schauspielerin, die bei der Übertragung der Rede immer wieder im Fernsehen eingeblendet wurde, Kopfschmerzen hatte und sich die ganze Zeit den Kopf hielt; das sah aus wie die blanke Erschütterung – dabei hatte sie nur Kopfschmerzen. Das kam sozusagen bildverstärkend hinzu, und dann war’s um den armen Jenninger geschehen.
    STERN    Ich habe sowohl in der Walser-Rede als auch insbesondere in dem Grass-Gedicht etwas gelesen, was ich als Trotzhaltung bezeichnen möchte, eine Trotzhaltung wie ein dickköpfiges Kind.
    FISCHER    Ja, aber die Herren sind keine Kinder mehr.
    STERN    Trotz, das muss ich sagen, ist unter den Deutschen weit verbreitet.
    FISCHER    Das ist ja auch okay in einer freien Gesellschaft. Was ich nur nicht verstehe, ist die weinerliche Reaktion auf die Kritik.
    STERN    Sie wollen ihre These bestätigt finden, nach dem Motto: Man darf’s noch nicht einmal sagen.
    FISCHER    Erinnern Sie sich, Fritz, an einen FDP-Politiker namens Möllemann? Der hat im Wahlkampf 2002 versucht, am rechten Rand zu zündeln. Und das hat sowohl in der CSU als auch in der CDU Begehrlichkeiten geweckt, nach der Devise: Na, was die können, das können wir auch. Und das muss ich sowohl Angela Merkel als auch Edmund Stoiber hoch anrechnen, dass sie eine solche Infamie nicht zugelassen haben. Diese Haltung muss man nachdrücklich bestärken. Denn bei solchen Fragen darf man nicht in kleiner Münze denken, da muss man wissen, dass es auch moralische Grundsätze in der Politik geben muss, jedenfalls wenn man in Deutschland Politik macht.
    STERN    Dieser Konsens ist in der politischen Klasse in Deutschland nach meiner Erfahrung durchaus vorhanden. Gott sei Dank!
    FISCHER    Ja. Einzelne versuchen halt immer wieder, den Konsens zu erschüttern. Wobei Möllemann, wie ich glaube, aus Kalkül handelte, indem er das Thema für seine 18-Prozent-Strategie instrumentalisierte. Ich Narr dachte immer, dass mit diesen Mätzchen, die dann auch Herr Westerwelle machte … Nein, nein, dahinter steckte die Überlegung – vor allen Dingen nach dem Erfolg von Pim Fortuyn in den Niederlanden –, dass es da ein Wählerpotential in der Größenordnung von 15 bis 20 Prozent gibt, von dem man Teile mit einer subkutan antisemitischen, in dem Fall offen antiisraelischen Position gewinnen kann. Aber das wirkt nicht mehr im Volk.
    STERN    Das sehe ich genau so. Es gibt starke Gegentendenzen. Die fehlten früher. Rechtsradikalismus stößt heute auf Gegenkräfte, auf überzeugte Republikaner, und genau die gab es zu wenig in Weimar.

VI Israel
    STERN    Jetzt kommen wir zu einem wirklich heiklen Thema, Joschka, und zwar nicht nur heikel in Deutschland, sondern auch heikel in den Vereinigten Staaten. Wir wollen von Israel reden. Da geht es nicht nur um die Vergangenheit, sondern vor allem auch um die aktuelle Lage. Man kann verstehen, dass viele Politiker sich bei diesem Thema lieber bedeckt halten. Das ist zwar immer noch besser als die losen Reden mancher amerikanischen Draufgänger. Trotzdem trägt das Schweigen nicht viel zum

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