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Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Titel: Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joschka Fischer , Fritz Stern
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gewonnen haben, weiß ich nicht mehr, ich weiß nur, dass es mit Ginsberg sehr nett war. Als wir mit dem Zug da rauf fuhren und er auf die Berge sah, sagte er: «Das ist doch herrlich, genau wie weibliche Brüste.»
    FISCHER    Da sprach schon der künftige Dichter.
    STERN    Ja, absolut. Als wir später hoch über dem Hudson standen, sagte er «Tintern Abbey» von Wordsworth auf, ein herrliches Gedicht, das ich früher auch mal auswendig konnte. Aber Ginsberg war auch politisch sehr interessiert, er hat mich über vieles belehrt, und er war derjenige, der mich zu Lionel Trilling geschickt hat, der dann ein großer Mentor von mir wurde. Leider wurde Ginsberg immer radikaler, er fing mit Drogen an und mit gestohlenen Sachen, die er für andere aufhob, und mehrmals musste ich ihm aus Schwierigkeiten helfen. Soll ich noch eine Geschichte erzählen?
    FISCHER    Ich höre fasziniert zu. Aber dass er gestohlen hat …
    STERN    Das hat er leider. Ich glaube allerdings, zu sozialen Zwecken, vielleicht auch aus Ideologie.
    FISCHER    Na ja, angesichts der gegenwärtigen Urheberrechtsdebatte, was technisch möglich ist, müssen wir rechtlich angleichen, ist der Fall Ginsberg vielleicht interessant. Aber erzählen Sie.
    STERN    Nun, irgendwann war halt der Punkt erreicht, wo die Leute in der Verwaltung beschlossen, Ginsberg, der schon immer ein bisschen aufmüpfig gewesen ist, rauszuschmeißen. Da bin ich zum Dekan gegangen und habe mich für Ginsberg eingesetzt. «Er ist ein hochintelligenter und in vieler Hinsicht ein sanfter und anständiger Mensch, man kann ihn nicht einfach rausschmeißen.» – «Sie wissen ja gar nicht, was er gemacht hat.» Der Dekan machte die Schublade seines altmodischen Schreibtischs auf, holte zwei Kärtchen heraus, reichte sie mir und sagte: «Das hat er ans Fenster seines College-Zimmers geschrieben.» Auf dem einen Kärtchen stand: «Butler has no balls» – Butler war der Präsident der Universität – und auf dem zweiten: «Fuck the Jews.» Da habe ich gelacht. Und da hätte der Dekan mich beinahe rausgeworfen, so wütend war er. Ich fand es einfach lächerlich, dass solche Provokationen ernsthaft ein Grund für die Relegation sein sollten. Ginsberg wurde nicht von der Universität verwiesen.
    FISCHER    Von welcher Zeit sprechen wir jetzt? Sie haben gesagt, Sie hätten sich 1943 kennengelernt. Dann ist das alles noch in der Zeit 1943 und folgende, also noch weit von der Beat Generation entfernt?
    STERN    Das wird so 1945 oder 1946 gewesen sein.
    FISCHER    Zwei bis drei Jahre, bevor ich auf die Welt kam.
    STERN    Ginsberg ging dann nach Kalifornien. Wir fingen an, in verschiedenen Welten zu leben, und gingen getrennte Wege. Bevor er ging, hatte ich durch ihn noch Jack Kerouac kennen gelernt.
    FISCHER    Die Anfänge der Beat Generation reichen so weit zurück? Wann ist «On the Road» geschrieben worden? 1957, schätze ich mal.
    STERN    In dem Jahr wurde es veröffentlicht, geschrieben wurde es aber früher. Die Anfänge der Beat-Bewegung reichen tatsächlich in die vierziger Jahre zurück, und das Zentrum war Columbia. Mit Lucien Carr, der damals die zentrale Figur war, saß ich in einem Seminar über Jean-Jacques Rousseau. Eines Tages – das muss im Sommer 1944 gewesen sein – auf dem Weg zum Seminar, schlage ich die Zeitung auf, und da steht auf der ersten Seite: «Columbia-Student wegen Mord verhaftet!» Carr, der ein sehr gut aussehender junger Mann war, war mit seinem deutlich älteren homosexuellen Freund David Kammerer nachts im Riverside Park gewesen, wo Kammerer anscheinend angefangen hat, ihm Avancen zu machen oder mehr als Avancen, und da hat er ein Messer genommen und ihn ermordet.
    FISCHER    Und Ginsberg?
    STERN    Ich bin nicht sicher, wie weit er in die Geschichte involviert war. Als er nach Kalifornien ging, haben wir uns mehr oder weniger aus den Augen verloren, aber in den sechziger Jahren kam er dann öfters zu mir nach Hause. Die Begegnung mit ihm im Mai 1968 war für mich wichtig, weil ich mich in der Universität einerseits zwar als Gegner des Vietnamkriegs profiliert hatte, andererseits aber auch in Aufrufen vor jeglicher Gewalt gewarnt hatte, und das machte mich bei vielen Studenten verdächtig. Dann kam Ginsberg und hielt seine Rede. Anschließend saßen wir in meinem Büro und gingen dann gemeinsam runter – er musste zur U-Bahn, ich ging nach Hause –, und wie er es oft getan hatte, legte er mir dabei den Arm um

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