Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)
liest, ist unmissverständlich: Du kannst uns erzählen, was du willst, du magst Recht haben, aber wir werden es kein zweites Mal zulassen, dass man unser Volk umbringt. Das habe ich in Israel so erlebt, und das habe ich bei den muslimischen Bosniern so erlebt.
STERN Für Israel ist die Shoah die Urkatastrophe, aber sie sollte uns ewige Mahnung sein und nicht Richtschnur für die Tagespolitik. Es gibt ein sehr umstrittenes Buch von einem ehemaligen israelischen Richter namens Burg, «The Holocaust is over», der die Position vertritt, dass der Holocaust nicht politisch instrumentalisiert werden soll. Joschka, ich will nicht missverstanden werden, ich kenne den Holocaust, aber kann man wirklich aus einem unsagbaren Verbrechen Leitsätze für Politik in ganz anderen Situationen gewinnen? Wird Israel damit nicht auch zum Opfer seiner eigenen Ängste? Aus solcher Sicht kommt auch der Schwur «Wir können uns nur auf uns selbst verlassen». Ist das wirklich die Lehre der israelischen Geschichte? Andererseits ist das Misstrauen Israels im Hinblick auf seine großmächtigen Feinde nachvollziehbar. – Ich frage mich, wenn es so ungeheuer schwer ist für Deutsche, Ratschläge zur Vernunft zu geben, ob es vielleicht auf europäischer Ebene leichter möglich wäre?
FISCHER Nein. Auf europäischer Ebene wäre es meiner Meinung nach noch sehr viel schwieriger, als es für uns Deutsche schon ist. Du musst die Lage kennen, du musst die Menschen kennen, und je mehr Israelis das Gefühl haben, der ist uns emotional zugetan, der versucht ernsthaft, uns zu verstehen, oder gar, der versteht uns, desto mehr ist möglich, auch und gerade für einen Deutschen. Wobei ich immer abraten würde, alles an die große Glocke zu hängen. Aber wenn du es tust, dann muss es gut überlegt sein, und dann hat es auch Wirkung. Also, je enger die Freundschaft, desto mehr Möglichkeiten. Das erfordert ein hohes Maß an Sensibilität und darf um Gottes willen nicht aufgeladen werden durch deutsche Identitätswünsche nach dem Motto «das muss man jetzt mal sagen dürfen». Da kann ich nur wiederholen: Außenpolitik nach Volkes Stimmung, das geht schief. Das Volk erwartet übrigens auch nicht, dass diejenigen, die es in die Regierung gewählt hat, nach Volkes Stimmung Außenpolitik machen, sondern das Volk erwartet, dass sie klug genug sind, zu wissen, was zu tun ist.
STERN Sie sagten vorhin, dass Kritik an Israel wegen der dortigen Innenpolitik so schwierig sei. Wenn Sie jetzt sagen, eine Regierung dürfe sich in der Außenpolitik nicht nach der Volksstimmung richten – und ich denke, das gilt in Israel genau so wie in Europa –, dann sehe ich da einen gewissen Widerspruch.
FISCHER Ben-Gurion hat das gemacht. Er hat, als er mit Adenauer die Beziehung eröffnete, nicht sehr viel auf die Stimmung in Israel gegeben, er hat sich einfach durchgesetzt.
STERN Ja.
FISCHER Aber das war David Ben-Gurion. Der Pater Patriae. Das war eine andere Gewichtsklasse, und die Lage damals war auch eine andere …
STERN Man braucht einen Ben-Gurion – oder einen de Gaulle.
FISCHER Rabin hätte es sein können.
STERN Ja, der war sehr nahe dran.
FISCHER Ich habe mit Scharon oft geredet. Ich habe ihn nicht überzeugt. Ich habe gesagt, Sie müssen jetzt den gleichen Mut haben, den General de Gaulle in Algerien hatte. Ich bin nach wie vor der Meinung, Scharon hätte nicht im Likud die Befragung machen sollen, sondern hätte den Mut haben müssen, als Premierminister eine Volksbefragung durchzuführen. Seine Reaktion war immer die gleiche: «You are a nice guy but you don’t live here».
STERN Es geht nicht um nice guys und auch nicht um den Wohnsitz. Es geht darum, in einer verdammt schwierigen Situation auf wohlwollende und erfahrene Menschen zu hören, in Israel und außerhalb, die die Sorge um Israel teilen und trotzdem – oder gerade deswegen – Kritik an der Regierung üben. Hört auch mal auf die Stimme von Leuten, die nicht hier leben, hätte ich Scharon geantwortet, das ist auch wichtig.
FISCHER Dann hätte er Sie angeguckt und hätte gesagt: Was weißt du schon von Arabern. Dream on. Den Blick habe ich oft genug gesehen. Ich hatte zu ihm eine sehr gute Beziehung, das hätte ich mir nie gedacht. Als ich ihn das erste Mal traf …
STERN Ist es nicht erstaunlich, dass Sie sich gerade mit ihm gut verstanden? Es muss da irgendeinen Schlüssel geben, dass man zu Leuten, die politisch
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