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Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition)

Titel: Gegen den Strom: Ein Gespräch über Geschichte und Politik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joschka Fischer , Fritz Stern
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Netanjahu, und aus dem Kanzleramt durchgesickert ist, was Inhalt des Gespräches war, hat das gewirkt. Ich werfe der Bundesregierung ja vieles vor, aber in diesem Punkt verteidige ich die Kanzlerin. Man kann ihr zweierlei nicht absprechen, dass sie versucht, den deutschen Einfluss zu nutzen, und dass es die richtige Form ist, wie sie es macht.
    STERN    Ja. Aber mit welchem Erfolg?
    FISCHER    Das weiß ich nicht, aber eines weiß ich. Jedes andere Vorgehen würde zum völligen Misserfolg und zu einer Belastung unserer Beziehungen führen. Wir Deutschen sind die besten Garanten für Israel. Das weiß man in Jerusalem, das ist oft erprobt und oft bewiesen worden, und daraus kann man dann die richtige Politik ableiten. Wenn man zu etwas nichts sagt, heißt das ja noch nicht, dass man es deswegen toll findet oder dass man es unterstützt.
    STERN    Entschuldigen Sie, aber der beste Garant für Israel ist nicht Deutschland, sondern Amerika. So wird es auch in Israel gesehen. Das ist bei den jetzigen Streitigkeiten keine beneidenswerte Situation. Unterstützung für die Verteidigung und das Existenzrecht Israels, das ist selbstverständlich. Aber das sollte doch niemanden daran hindern, auf der anderen Seite klarzustellen, dass man sich um die Demokratie in Israel sorgt, dass man Diskriminierung, Verachtung und Vertreibung nicht nur aus moralischen Gründen verurteilt, sondern dass die israelische Regierung mit ihrer Politik gegenüber den Palästinensern die eigene Demokratie beschädigt.
    FISCHER    Sie haben recht, ich hätte «in Europa» hinzufügen müssen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man als Deutscher in Israel sehr willkommen ist, wenn man bestimmte Dinge beherzigt, über die wir eben gesprochen haben. Und ich habe den Eindruck, daran hält sich auch die jetzige Bundesregierung, vor allen Dingen das Kanzleramt.
    STERN    Das weiß ich, und das weiß ich auch zu schätzen. Natürlich ist vieles eine Frage der Diplomatie. Sie reden von der Öffentlichkeit, Sie reden von der Tatsache, dass man den Israelis keine Leviten lesen darf als Deutscher – das sei kontraproduktiv. In Israel gibt es aber nicht nur Diskussionen über die Tagespolitik, sondern auch eine vehemente Opposition gegen die ständige Überbewertung des Militärischen durch die jetzige Regierung. Man tut Israel unrecht, wenn man nur auf die Regierung schaut. Was ist zum Beispiel mit den Argumenten ehemaliger Kommandeure der israelischen Armee, die vor Präventivschlägen gegen den Iran warnen? Die innere Situation in Israel ist so komplex und so angespannt, das muss man sich nicht nur vergegenwärtigen, das muss man dem Land auch zugute halten.
    FISCHER    Israel befindet sich de facto im permanenten Kriegszustand. Ich bekam einmal von einer protestantischen Pastorin eine wunderschöne Führung durch Jerusalem, das Jerusalem des Urchristentums. Sie hatte Armverletzungen, und bei einer längeren Busfahrt zwischen zwei Besichtigungsstätten sagte sie mir, dass sie bei einem der ersten schweren Bombenattentate auf dem Markt in Jerusalem, ich glaube 1993, unter den Opfern war. Ich habe Jerusalem erlebt auf dem Höhepunkt der Terroroffensive, da waren wir mit einer Regierungsdelegation im King David Hotel fast ganz allein. Um halb acht Uhr abends waren die Straßen leer. Wir saßen noch mit Journalisten auf der wunderbaren Veranda vis-à-vis der Altstadt, und da hörtest du das tack, tack, tack, tack von Maschinengewehren und das Gewummere von Granatwerfern aus Richtung Bethlehem. Damals haben Eltern ihren Kindern nicht mehr erlaubt, in die Disco zu gehen. Im Sommer 2001 habe ich das Massaker am Dolphinarium, einer Diskothek am Strand von Tel Aviv, fast direkt mitbekommen; den Geruch von Blut am nächsten Tag werde ich nie vergessen. Wer das noch nicht erlebt hat, Anschläge mit so vielen Opfern, kann es nicht nachvollziehen. Was glauben Sie, was bei uns los wäre, wenn wir de facto mit der Bedrohung konfrontiert wären, dass man uns auslöschen will? Und das vor dem Hintergrund – das kommt ja noch hinzu! –, es wurde schon einmal versucht. Die Geschichte der Shoah ist bei all diesen Anschlägen präsent. Mir ist das klar geworden, als ich zum ersten Mal als Außenminister mit Bosniern zu tun hatte. Da stellte ich eine ähnliche Reaktion fest, wie ich sie bei israelischen Verantwortlichen finde. Ab einem bestimmten Punkt in der Debatte gucken die dich an, gucken durch dich hindurch, sagen ja, ja, und was du in ihren Augen

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