Gegen jede Regel
wir.
»Er wird bestimmt eine Beschwerde einreichen«, sagte Nina
auf dem Flur.
»Das kann er gerne machen«, erwiderte ich mit einer passablen
Imitation seiner Stimme. Ich rechnete nicht mit einer Beschwerde, weil Kleemann
dann hätte erläutern müssen, was an meiner Frage anstöÃig gewesen war.
Nina lachte. Ein wunderbarer Klang, gerade in dieser
Umgebung. »Was ist eigentlich los mit denen hier?«
»Das ist eine rhetorische Frage, oder?«
»Ja.«
»Aber Verdienste um die Völkerverständigung haben wir uns
heute nicht erworben.«
»Machen wir, dass wir von hier verschwinden«, sagte Nina.
Â
Die Wohntürme in Duisburg-Rheinhausen waren die
westdeutsche Antwort auf die Plattenbauten des Ostens. Wir suchten unseren Weg an
den gelben Rasenflächen vorbei, an rostigen Spielgerüsten vorbei bis zum
Eingang des Hauses, in dem wir Marcel Blumberg finden würden.
Das Klingelschild erinnerte mich an die Instrumententafel
einer komplexen Produktionsanlage, so viele Knöpfe hatte es. Während wir mit
dem Aufzug in die zwölfte Etage fuhren, schauderte es mich bei dem Gedanken,
selbst in so einem Haus zu leben. Eine stärker verdichtete Form des Wohnens
konnte man wahrscheinlich nur in Tokio, Singapur oder Hongkong finden, wo die
Türme nicht nur höher waren, sondern zudem auch näher beisammenstanden. Ich
konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie jemand freiwillig hier
wohnen konnte.
Marcel Blumberg machte einen freundlichen, aufgeschlossenen
und intelligenten Eindruck. Seine Wohnung war sauber und aufgeräumt. Er bat uns
herein, bot uns den obligatorische Kaffee an und wir setzten uns ins Wohnzimmer.
Blumberg war die Ruhe selbst, als er uns fragte: »Was
kann ich für Sie tun?«
Ich begann mit unserer üblichen Einleitung.
Blumberg zeigte sich angemessen schockiert über Tobiasâ Tod.
»Ich dachte, er hätte den Termin einfach nur verpennt.«
»Mit dieser Annahme sind Sie nicht allein«, sagte ich. »Kannten
Sie ihn denn näher?«
»Wir sind uns einmal bei einer regionalen
Face-to-Face-Partie begegnet.«
»Wie war Ihr Eindruck von Tobias?«
»Er war einer der typischen Jungen, die es faszinierend
finden, die Rolle eines groÃen Herrschers zu übernehmen und mit anderen über
das Schicksal des Kontinents zu verhandeln.«
»Zieht das Spiel solche Personen an?«
»Ja, schon. Ich glaube, für die ist es auch sinnvoll,
dass es Einsteigerpartien gibt. Da müssen sie erst einmal zeigen, dass sie über
fünf oder sechs Wochen bei einer Partie dabeibleiben können.«
»Ist das schwierig?«
»Für viele schon. Die erwarten, sobald sie sich angemeldet
haben, geht es los. Aber Dominanz per
E-Mail ist ein langsames Spiel, bei dem man viel Geduld braucht. Für viele ist
es schwer, längere Zeit dabeizubleiben. Und noch schwerer ist es, wenn man dann
zum ersten Mal reingelegt wird und es ums Durchhalten geht.«
»Wie war sonst Ihr Eindruck von Tobias?«
»Er war ein netter Kerl. Witzig. Klug.«
»Ein guter Spieler?«
»Ja, recht gut, würde ich sagen. Auf jeden Fall im oberen
Drittel.«
»Und Sie selbst?«
»Ich bin auf Platz vier im Highscore.«
Das war beachtlich. Wahrscheinlich wäre mein Respekt vor
dieser Leistung gröÃer gewesen, hätte es sich um ein Spiel gehandelt, bei dem
es nicht ausschlieÃlich um Intrigen und Betrügereien ging.
»Das ist ja sehr weit oben«, sagte ich.
»Ja«, bestätigte er. »Das ist nicht schlecht. Ich arbeite
daran, unter die ersten drei zu kommen.«
»Wie geht das?«
»Der Highscore berechnet sich ziemlich kompliziert. Man
kann sagen, er ergibt sich aus dem Erfolg bei einer Partie und aus dem Wert
dieser Partie. Der Wert einer Partie wiederum ergibt sich aus den
durchschnittlichen Highscorewerten der Spieler.«
Ich folgte ihm mühsam, offenbar zu langsam für sein
Empfinden.
Blumberg fuhr fort: »Wenn ich also im Highscore aufsteigen
will, muss ich Partien gewinnen, in denen die anderen Spieler möglichst hohe
Highscorewerte haben. Und solche Partien gibt es fast nur bei Turnieren.«
Das wiederum verstand ich. »Das heiÃt, bei der Deutschen
Meisterschaft können Sie Ihren Platz in der Rangliste verbessern.«
»Wenn ich gewinne. Aber die anderen haben ja auch nicht
umsonst so einen hohen
Weitere Kostenlose Bücher