Gegen jede Regel
Moment auf den anderen begannen meine Hände zu
zittern, als hätten meine Worte einen Schalter in meinem Kopf umgelegt. Nina
hatte es bemerkt und schaute mich sorgenvoll an. Ich steuerte den nächsten
Parkplatz an. Als der Wagen zum Stillstand kam, atmete ich mehrmals tief ein
und aus.
Dann sagte ich: »Das war ganz schön knapp, oder?«
Bruchstückhafte Bilder tanzten vor meinen Augen. Mündungsfeuer
blitzte auf, Holzsplitter ritzten meine Wange. Der Parkplatz verschwamm, das
Auto löste sich auf, bis ich auf einem Feldweg stand und meine FüÃe in den
weichen Boden sanken. Nebel schloss mich von allen Seiten ein, umklammerte mich
und schob mich in Richtung des Serienmörders. Ich sah ihn, hob meine Waffe, drückte
ab, verfehlte ihn aber. Er trug keine Pistole mehr, sondern hob ein blitzendes
Skalpell, präsentierte es mir stolz von allen Seiten. Er grinste mich an, während
der Nebel ihm sein nächstes Opfer zuschob. Mein Blick wurde von dem Skalpell
eingefangen, haftete auf ihm, ohne dass ich ihn lösen konnte. Ich fragte mich,
wie das blanke Metall der Klinge im trüben Nebel aufblitzen konnte, als sei das
die einzige Sorge, die ich hatte. Ich wusste, dass der Mann mich mit seinem
Skalpell umbringen würde wie alle anderen, wenn ich ihm die Gelegenheit dazu
lieÃ. Ich musste ihn erschieÃen. Ich hob meinen Arm, aber er war so schwer, als
würde er festgehalten.
Das war Nina. Ich wusste nicht, wie sie es gemacht hatte,
aber mit ihrer Hand auf meinem Arm verscheuchte sie den Nebel, lieà das Auto
wieder erscheinen und brachte mich zurück auf den Fahrersitz. Der Schrecken der
Vision verpuffte unter ihrer Hand, aber ich blieb desorientiert zurück, mit
kaltem Schweià auf jedem Zentimeter meines Körpers. Ich fand Ninas Augen und
lieà mich von ihnen in die Wirklichkeit zurückführen.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte sie. »Du siehst aus, als
hättest du ein Gespenst gesehen.«
»Das habe ich auch«, murmelte ich. Ich bewegte behutsam
meine Arme und Beine. Bis auf ein leichtes Zittern und ein Schwächegefühl
gehorchten sie meinem Willen. Es gab keinen Nebel, weder auÃerhalb des Autos
noch in seinem Innern.
»Ich glaube, ich sollte weiterfahren«, sagte Nina.
Ich widersprach ihr nicht und stieg aus, streckte mich
und atmete die frische Luft ein. Es ging mir augenblicklich besser, trotzdem
tauschten wir die Plätze und ich lieà mich dankbar auf den Beifahrersitz
sinken.
Wir fuhren weiter. Nina fragte nicht, was ich gesehen hatte.
Ich erzählte es ihr trotzdem.
Â
Kurz vor Münster rief ich unseren Kollegen Seybold
an. Er war noch am Tatort im Haus von Martin Pracht. Nina schlug diese Richtung
ein.
Der Hof war mit Autos vollgestellt. Ein Kollege in Uniform
hielt uns an, als wir auf das Gelände fahren wollten. Wir zeigten ihm unsere
Ausweise und Nina erklärte, zu wem wir wollten. Der Kollege winkte uns durch
und verstellte wieder die Zufahrt, immer bereit, dem nächsten Ankömmling einen
weniger freundlichen Empfang zu bereiten.
Wir kannten den Weg und trafen im Wohnzimmer auf einen
hektischen Hauptkommissar Seybold. Er lief mit schnellen Schritten auf und ab
und sprach mit kurzen, abgehackten Sätzen in sein Handy.
Abgesehen von dem Kollegen Seybold war die Ãhnlichkeit
der Tatorte frappierend. Martin Pracht lag ausgestreckt auf dem Bauch in
derselben Haltung wie Tobias. Er war dunkel gekleidet, offenbar in einen
Pyjama. Sogar der Boden hatte denselben Holzton wie der im Haus der Maiers.
Kollegen der Spurensicherung bearbeiteten den Raum. Wir stellten uns auf die
Seite, wo wir niemanden störten, und warteten.
»Ah, da sind Sie ja«, sagte Seybold, als er sein Handy zuklappte.
Er kam zu uns und schüttelte uns die Hand. Dann deutete er auf die Leiche. »Genau
wie bei Ihrem Opfer. Stichwunde im Rücken. Acht Zentimeter tief. Tödlich.«
Und allem Anschein nach sogar an derselben Stelle wie bei
Tobias. »Direkt ins Herz? Schneller Tod?«
»Der Gerichtsmediziner sagte so etwas, ja.«
»Dann sieht wirklich alles so aus, als hätten wir es mit
demselben Täter zu tun.«
»Mann, Sie hatten recht«, sagte Seybold kumpelhaft. »Wir
haben uns geirrt. Die beiden Morde können nur mit diesem Spiel zusammenhängen.«
»Was hat die Untersuchung des Hauses ergeben?«
»Bisher nichts. Der Täter hat keine Spuren hinterlassen.
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