Gegen jede Regel
am nächsten Tag â wir hatten uns freigenommen â miteinander zu telefonieren
und zu überlegen, was als Nächstes zu tun war. Ich war mir sicher, dass ich
sehr viel länger brauchen würde, um die Ereignisse zu verdauen. Unser Abschied
war seltsam distanziert, wenn man bedachte, wie nah wir uns am Abend zuvor
gekommen waren. Ich fuhr nach Hause mit dem festen Vorsatz, mein Wohnzimmer zu
streichen und damit alle Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen.
Montag
Meine Zahnschmerzen waren über Nacht noch schlimmer geworden.
Ich hatte bereits drei Mal bei meinem Zahnarzt angerufen, bevor ich beim
vierten Versuch endlich mit einer Sprechstundenhilfe anstatt dem
Anrufbeantworter sprach. Ich schilderte ihr möglichst sachlich das AusmaÃ
meiner Schmerzen. Sie fragte mich, wie schnell ich kommen konnte, und zwanzig
Minuten später saà ich im Wartezimmer. Ich nahm mir eine Zeitschrift und
versuchte, mich damit abzulenken, was aber nicht vollständig gelang. Glücklicherweise
musste ich nicht lange warten, bis der Arzt mich in den Behandlungsraum rief.
Ich beschrieb auch ihm meine Beschwerden und erklärte,
von welchem Zahn sie ausgingen. Der Zahnarzt fuhr mich im Behandlungsstuhl in
Position und begann, meinen Zahn zu untersuchen. Es war ein junger Arzt, der
noch nicht allzu lange im Geschäft war. Wie bei jedem Besuch erstaunte mich die
Ruhe, die er ausstrahlte und die wirkungsvoller war als alle Zeitschriften im
Wartezimmer zusammen. Vielleicht war er ja mit Dr. Klein verwandt.
Er untersuchte den Zahn gründlich. Dann schüttelte er den
Kopf. »Der sieht ganz in Ordnung aus.«
Weder war ich in der Position, um ihm zu widersprechen,
noch war es nötig. Er sagte: »Ich schaue mal die anderen Zähne an.«
Auch beim nächsten Zahn wurde er nicht fündig. Als er
jedoch mit der Spitze seiner Sonde den dritten Zahn untersuchte, durchzuckte
mich ein so intensiver Schmerz, dass ich damit rechnete, augenblicklich aus dem
Stuhl katapultiert zu werden.
»Aha«, sagte der Zahnarzt, als fände er das höchst interessant.
»Das ist der Ãbeltäter.«
Ich schaute ihn ungläubig an. Wenn ich richtig orientiert
war, hatte der Zahn, an dem er gerade herumstocherte, mit dem, der mir wehtat,
nicht das Geringste zu tun. Sie waren noch nicht einmal direkt benachbart.
Unsere Blicke trafen sich. In seinen Augen las ich grenzenlose Zuversicht. Ich
konnte mich nicht dagegen wehren, dass ein Teil davon auf mich überging.
Er sagte: »Das kann manchmal passieren. Bei einigen
Menschen gibt es Querverbindungen in den Nerven, welche die Zähne miteinander
verbinden. Wenn so etwas vorliegt, ist es schwierig, eine normale Betäubung zu
setzen, und es kann sein, dass das Schmerzempfinden einem Streiche spielt.
Durch diese Querverbindungen spüren Sie den Schmerz nicht dort, wo er entsteht.«
Das klang wunderbar, wissenschaftlich und seriös. Ich
glaubte ihm kein Wort. Der Schmerz in meinem Zahn war so intensiv, dass er mir
nie und nimmer verkaufen konnte, dass er irgendwo anders herkam als eben von
genau diesem Zahn.
Der Arzt musste das von meinen Augen abgelesen haben,
lieà sich davon aber nicht irritieren. Er fuhr mich wieder in eine aufrechte
Position und sagte: »Wir werden den ganzen Kieferabschnitt röntgen, dann wissen
wir es ganz genau.«
Ich nickte benommen, folgte der Assistentin in den Röntgenraum
und tat, was sie mir sagte. Nach der Aufnahme wartete ich im Behandlungsraum.
Der Zahnarzt klemmte das Röntgenbild auf den Lichtschirm
und erläuterte es. »Sehen Sie hier, das ist der Zahn, in dem Sie den Schmerz
spüren. Er ist vollkommen in Ordnung. Das hier ist der Zahn, den ich meine. Im
Zahnzwischenraum halb unter dem Zahnfleisch hat sich Karies gebildet, die sehr
tief geht und fast den Nerv berührt. Das verursacht die Schmerzen.«
Es war gut, dass ich es vor mir sah. »Das ist unglaublich«,
sagte ich. Immer noch saà der Schmerz in meinem gesunden Zahn.
»Das verstehe ich«, sagte der Zahnarzt mitfühlend. »Das
Problem bei diesem Zahn ist, dass die Karies zu weit fortgeschritten ist. Wir
werden den Nerv entfernen müssen.«
»Wurzelbehandlung?«, fragte ich mit einem flauen Gefühl
im Magen.
Der Zahnarzt nickte nur. Ich lieà mich in den Stuhl zurücksinken.
Er sagte: »Der Nerv ist noch vital, deshalb werden wir ihn heute erst einmal
betäuben und mit einem Medikament
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