Gegen jede Regel
meinen
Tag gerettet habe. Er antwortete, das sei selbstverständlich.«
Das klang nach einem schönen Ende der Episode.
Nina fragte: »Aber?«
»Dann schrieb ich ihm, seine Hilfe sei überhaupt nicht
selbstverständlich gewesen.«
Ich vermutete darin eine Steilvorlage für den Frauenversteher.
»Und?«
»Und dann kamen wir ins Gespräch. Es war leicht. Und
angenehm. Er hat mir zugehört.«
»Per E-Mail?«
»Er hat meine E-Mails ganz genau gelesen. Nachgefragt. Er
hat sich für meine Probleme interessiert.«
»Sie haben sich nicht getroffen und sich wirklich miteinander
unterhalten?«
»Nein, das hat sich nie ergeben. Und wenn, dann hatte
immer einer von uns es eilig oder wir hatten ⦠Begleitung.«
»Sie meinen Ihren Mann.«
»Oder seine Eltern.«
»War es nicht komisch, mit einer Person nur über E-Mail
in Kontakt zu stehen, obwohl Sie doch Wand an Wand gewohnt haben?«
»Einerseits schon, aber es hat das auch zu etwas ganz Besonderem
gemacht.«
Gemeinsame Geheimnisse verbinden eben.
»Worüber haben Sie sich geschrieben?«
»Er schrieb über Probleme in der Schule. Ich über Probleme
mit meinem Mann. Er tröstete mich. Ich glaube, er hat mich wirklich verstanden.«
»Was sind das für Probleme mit Ihrem Mann?«
Frau von Neudeck zögerte. »Ist ⦠Bleibt das vertraulich?«
»Frau von Neudeck, Sie standen in einer sehr ⦠unkonventionellen
Beziehung zu einem Mordopfer. Wir sind bemüht, Ihre Privatsphäre zu schützen,
aber ich kann Ihnen nichts versprechen.«
Sie atmete tief durch und gab sich einen Ruck. »Gut, vielleicht
ist es sogar besser so. Ich frage mich ohnehin, ob ich so weiterleben will.« Dieser
kryptischen Aussage folgte eine kurze Pause, aber Frau von Neudeck brauchte
keine zusätzliche Aufforderung mehr. »Unsere Beziehung hat sich sehr verändert,
seit wir geheiratet haben. Mein Mann arbeitet länger. Er ist weniger zu Hause.
Er fragt nicht mehr, was ich mache, wir reden viel weniger miteinander.
Manchmal tagelang gar nicht. Er beachtet mich überhaupt nicht mehr.«
Die Maiers und die von Neudecks schienen ähnliche Probleme
zu haben. Ich überlegte, ob das vielleicht etwas mit dem Gebäude zu tun hatte.
»Und im Bett ⦠Da geht schon lange nichts mehr. Er hat â¦
Mein Mann hat â¦Â«
»Erektionsprobleme?«, fragte ich.
»Ja.« Dann setzte sie hinzu: »Zumindest bei mir. Das war
früher nicht so. Bin ich denn so unattraktiv?«
Ich hatte irgendwann einmal in einem Beziehungsratgeber
gelesen, dass die Erektionsfähigkeit des Mannes nicht von der Attraktivität
seiner Partnerin, sondern von der Qualität der Beziehung zu ihr bestimmt wurde.
Aber ich war nicht Dr. Sommer. Trotzdem fragte ich: »Wie lange hat er das
schon?«
»Etwa ein Jahr, würde ich sagen.«
»Haben Sie einmal an Hilfe gedacht?«
»Mein Mann will nicht zum Arzt gehen. Er sagt, das sei
nur der Stress und das gehe vorüber.«
»Ich meinte nicht ärztliche Hilfe für Ihren Mann, sondern
Hilfe für Sie beide und Ihre Beziehung.«
Frau von Neudeck schaute mich eine Weile an. Dann sagte
sie: »Ich kann doch mit niemandem darüber reden.«
Ich hatte eigentlich an einen Therapeuten gedacht, nahm
aber das Stichwort auf. »Haben Sie keine Freundin, der Sie genug vertrauen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Mit denen kann man Fahrrad
fahren und einkaufen, aber wenn ich so etwas erzähle, dann ziehen die mich in
der ganzen Stadt hinter meinem Rücken durch den Kakao. Und meinen Mann auch.«
»Konnten Sie Tobias davon erzählen?«
Sie nickte. Und er hatte das verstanden. Sie hatte dem
Jungen von nebenan mehr vertraut als ihren Freundinnen. Oder ihrem Ehemann.
»Seit wann waren Ihre E-Mails intim?«, fragte Nina.
»Vielleicht seit sechs oder acht Wochen.«
»Wie ist es dazu gekommen?«
»Ich glaube, ich schrieb ihm, dass ich manchmal nachts
wach liege. Und mir Dinge vorstelle.«
Ein schöner Einstieg. Mir fiel auf, dass beide Male die
Initiative zur Vertiefung der Beziehung von Frau von Neudeck ausgegangen war.
»Und dann?«
»Tobias fragte mich, woran ich dann nachts denke.«
»Und Sie haben es ihm geschrieben?«
»Er wusste sowieso schon so viel, da war das ohne Bedeutung«,
sagte sie. »Und dann haben
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