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Gegensätze ziehen sich aus

Titel: Gegensätze ziehen sich aus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Gier
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nur eine große Straße überquert werden, und die hatte einen beampelten Fußgängerüberweg. Aber nicht nur Emily wurde abgeholt, offenbar auch alle anderen Kinder, denn der Parkplatz und der Seitenstreifen vor der Schule waren bereits hoffnungslos zugeparkt. Als ich das Fahrrad abstellte, sah ichauch den Van von Frauke Werner-Kröllmann vorfahren. Sie parkte auf dem Behindertenparkplatz.
    Ich hob Julius hastig vom Fahrrad, aber es war schon zu spät, Frauke hatte mich bereits gesehen.
    »Hallo«, sagte sie. Ihr Babybauch hatte mittlerweile gigantische Ausmaße angenommen. Er berührte schon meinen Mantel, als Fraukes Gesicht noch einen halben Kilometer entfernt war. An der Hand führte sie ihren hochbegabten Sohn Marlon. »Möchtest du Julius hier anmelden?«
    »Noch nicht«, sagte ich. »Er wird ja im Januar erst fünf.«
    »Iß trete dir ßo feßte in den Bauch, dass dir die Därme raußquillen tun«, sagte Marlon zu Julius. »Und dann reiße iß dir den Kopf ab und ßtopfe ihn in die Mülltonne.«
    Julius und ich starrten ihn ungläubig an.
    »Schatz, das ist jetzt aber ungerecht«, sagte Frauke. »Julius hat dir doch nichts getan.«
    Zu mir sagte sie: »Marlon ist heute im Kindergarten gebissen worden, und Aggressionen erzeugen ja leider immer Gegenaggressionen. Dieses Heidkamp-Kind ist allmählich nicht mehr tragbar. Wir machen eine Unterschriftensammlung von Eltern betroffener Kinder. Ist Julius noch nie von Dennis gebissen worden?«
    »Jedenfalls nicht so, dass die Därme rausquillen tun«, sagte ich.
    »Die Mutter ist ganz offensichtlich überfordert«, sagte Frauke. »Ich denke, das ist ein Fall fürs Jugendamt.«
    Und du und dein Sohn seid ein Fall für die Geschlossene.
    Frauke beschloss, das Thema zu wechseln. »Die Hirschkäferweg-Schule ist die beste Grundschule in der ganzen Stadt«, sagte sie.
    »Es ist vor allem die nächstgelegene«, sagte ich.
    »Aber sie nehmen weiß Gott nicht jeden auf«, sagte Frauke.
    »Sie achten hier auf ein sehr hohes Niveau. Der Aufnahmetest ist berüchtigt. Wir von der Mütter-Society trainieren unsere Kinder schon ein gutes Jahr vorher. Leider können wir unseren Insider- Aufnahmetest-Trainings-Test nur an Mitglieder abgeben.«
    Ich ließ mir das Wort Insider-Aufnahmetest-Trainings-Test noch auf der Zunge zergehen, als die Schulglocke ertönte. Da ich Angst hatte, Emily in dem Gewühl zu übersehen, drängelte ich mich an Frauke vorbei in das Schulgebäude. Aus allen Klassen strömten Kinderscharen. Julius hielt sich ängstlich an meinem Mantel fest.
    »Wenn du willst, dass Julius hier aufgenommen wird, dann musst du jetzt anfangen, mit ihm zu rechnen und zu schreiben. Und natürlich musst du die Allgemeinbildung trainieren«, sagte Frauke, die offenbar den gleichen Weg hatte wie wir. »Flavia musste in ihrem Aufnahmetest die Bedeutung eines Semikolons erklären, das Ein-Mal-Vier aufsagen und Violoncello buchstabieren.«
    »Im Aufnahmetest-Trainings-Test oder im richtigen Aufnahmetest-Test?«, fragte ich.
    »Im richtigen Aufhahmetest natürlich«, sagte Frauke.
    Na gut. Wenn das wirklich stimmte, sollte ich mich schon mal nach einer anderen Schule für Julius umschauen.
    »Ah, da ist ja Frau Berghaus«, rief Frauke. »Frau Berghaus, hallo! Hier bin ich! Nur ganz kurz: Haben Sie das Buch über das Schreib verhalten von Linkshändern gelesen, dass ich Ihnen gegeben habe? Ich finde es schon wichtig, dass Flavia die gleichen Bedingungen hat wie ihre rechtshändigen Mitschüler.«
    Frau Berghaus sah aus, als ob sie flüchten wollte, aber Frauke versperrte ihr mit dem Bauch den Fluchtweg und hielt sie am Ärmel fest.
    »Lehrerin ist sicher auch ein Scheißberuf«, sagte ich zu Julius. »Da vorne ist Emily«, sagte Julius.
    Tatsächlich kam Emily den Gang entlang, und sie sah winzig und zerbrechlich aus zwischen all den anderen Kindern. Sie las im Gehen in einem Buch, hatte den Kopf gesenkt und schleifte den teuren lila Mantel auf dem Boden hinter sich her.
    So vertieft stieß sie mit einem größeren Jungen zusammen, der aus seiner Klasse schoss.
    »Doofes Schlitzauge, pass doch auf, wohin du gehst«, rief der Junge.
    Emily sah kaum aus ihrem Buch hoch. Der Junge, ein feister Kerl mit roten Stoppelhaaren, rannte an uns vorbei und rempelte Julius dabei seinen Schulranzen in die Seite. Ich unterdrückte den Impuls, ihm hinterher zu rennen und ihn zu verhauen und stellte mich stattdessen Emily in den Weg.
    »Hallo, Emily. Luisa ist leider krank geworden. Deshalb hole ich dich

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