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Gegenwinde

Gegenwinde

Titel: Gegenwinde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Adam
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Straßenlampen konnte man dicke Flocken erkennen. Ich stand auf, um mir das aus der Nähe anzusehen, Isabelle kam mir nach, der Heizkörper versengte uns die Haut, nackt standen wir nebeneinander und schauten den Schnee an, ich wusste nicht, wie lange er schon so fiel, mindestens eine Stunde, der Garten war bereits weiß. Ich schlüpfte in die Kleider und weckte die Kinder. Manon machte große Augen, als sie den weißen Teppich und die fünf Zentimeter hohe Decke auf dem Gartentisch entdeckte. Ich zog ihr den Mantel an, Clément folgte uns gähnend, keiner von beiden schien überrascht zu sein, die Nachbarin zu sehen, es war zwei Uhr morgens, aber was wussten sie davon, in dieser Jahreszeit wurde es schon nachmittags dunkel. Die Sackgasse funkelte, es hatte aufgehört zu schneien, und der Himmel klarte allmählich auf, wir gingen bis zum Meer, auf leisen Sohlen durch die seidige Stille, wie um nicht zu stören. Manon drehte sich nach den Spuren um, die ihre Füße hinterließen. Dort, hinten, unter dem wieder aufgetauchten Mond, der leuchtete wie noch nie, konnte man sich in einen Traum versetzt fühlen. Ein tintenschwarzes Meer leckte an der schimmernden weißen Fläche, kein Sandkorn war mehr zu erkennen, die Felsen waren glatt wie Robben. Ans Geländer geklammert, stiegen wir die Treppe hinunter, alles war vereist und glänzte in der kristallklaren Dunkelheit. Unten angekommen, liefen die Kinder los wie Kosmonauten, der leichte Pulverschnee zerstob zwischen ihren Fingern. Ich warf den ersten Ball. Clément wich ihm lachend aus, aber ich hatte den Krieg erklärt. Besser wir brachten uns in Sicherheit. Isabelle und ich versteckten uns hinter einem Felsen, der Kerl beschoss uns zehn Minuten lang. Am Ende waren wir durchnässt bis auf die Knochen. In einiger Entfernung malte Manon, den Blick zum Himmel gerichtet, mit ausgebreiteten Armen Engel in das unberührte, blendende Weiß. Die Kinder waren erschöpft, aber glücklich, glücklich wie noch nie seit Sarah weg war, und das tat mir wahnsinnig gut, sie so zu sehen, mit roten Wangen leuchtenden Augen außer Atem. Wir gingen zurück, von der fünfzehnten Stufe aus betrachteten wir unser Schlachtfeld. Auf hundert Meter war alles zertrampelt, dann beanspruchte das Makellose wieder sein Recht, eine dicke Sahneschicht erstreckte sich bis zur Landspitze.
    Ich legte die Mäntel zum Trocknen auf die Heizkörper, und Isabelle ging zu sich nach Hause, um zu schlafen. Von meinem Fenster aus sah ich sie als Schattenriss, wie sie sich entkleidete und ein Nachthemd überzog. Alles war ruhig. Draußen hatte es wieder angefangen zu schneien, unsere Fußspuren in der Sackgasse waren schon zugedeckt. Die Kinder schnarchten, eingemummt in ihre Decken, kaum im Haus, waren sie umgefallen wie Säcke, ich fragte mich, ob sie beim Erwachen denken würden, sie hätten geträumt. Ich selbst war mir bei nichts mehr sicher. Der Whisky verbrannte mir den Magen, Neil Young jaulte im Radio, und die Nacht weigerte sich, finster zu werden.

II SPRINGFLUT
    JEDE NACHT BREITETE ein großes weißes Tuch über die Stadt, morgens kam alles gedämpft darunter hervor, Geräusche Gefühle Gerüche, jedes unserer Glieder, unsere Herzschläge. Es hatte fast eine Woche lang geschneit, und die Kinder waren allzu ruhig, ihr Schweigen machte mir Sorgen, aber auch ich war wie betäubt. Alles um uns herum lief in Zeitlupe ab, eine allgemeine Lethargie, eine Lähmung. Ich erlebte es wie eine Verschnaufpause. Ein Zwischenstadium, das schließlich in irgendetwas münden würde. Schon bekamen die Straßen allmählich wieder Kontur, die Stadt erwachte langsam aus dem Koma. Auf den Kais schossen Karussells aus dem Boden wie bunte Pilze, bald begann der Jahrmarkt, drei Wochen Entenangeln, Schießbuden, Plüschtiere, Zuckerwatte und Autoskooter. Ich hasste all das mindestens genauso wie die Hungerleiderzirkusse im Sommer: knochige, räudige Löwen, paillettenübersäte Jongleusen mit Pappmachélächeln, Kinderakrobaten mit traurigen Augen, schwerfällige Trapezkünstler, melancholische Dompteure und magere und verängstigte dressierte Hunde. Ich bat Bréhel, langsamer zu fahren. An den dicken Telegrafenmasten klebten aufgeweichte Plakate. Seit fünf oder sechs Tagen posierte da unkenntlich und unscharf Justine, die Augen rot vom Blitzlicht, ein gezwungenes Lächeln auf den Lippen. Über dem Bild stand, dass sie verschwunden war. Wir fuhren weiter, die Stunde ging zu Ende, und ich hörte Bréhel zu, zu allem hatte er eine

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