Geh auf Magenta - Roman
Nehmens, eine Welt im Kokon – eine Liebe wie in märchenhafte Runen gehauen.
Bis zu dem Tag seiner Rückkehr. Ein Zustand X fand ganz einfach sein Ende und wurde durch den Zustand Y ersetzt, der Webfaden eines gemeinsamen Lebens war abgeschnitten: Im Verlust der Zukunft wurde eine jede Vergangenheit bitter.
Er wischte sich über die tränennassen Wangen. Es kam ihm so vor, als sei er weltweit der Einzige, der so viel Seelenschmerz selbstverschuldet zu ertragen hatte und jetzt seine Strafe erlebte – ein tonnenschweres Kreuz, das er wie Sisyphus von einer Wand seines Ateliers bis zur nächsten tragen würde, ein endloser, stiller Trauermarsch. Und das inmitten der Berliner Fun City , jeder hatte Spaß, nur er nicht, er war jetzt mit allem allein. Ein weiteres Wischen über nasse Wangen und ein weiteres Zitat auf dem Bildschirm:
»Die Welt ist eine Komödie für jene, die denken, und eine Tragödie für jene, die fühlen.«
Aber wie konnte man wirklich allein sein? Zwischen Menschen und Freunden, in einer Welt, die mehr als sieben Milliarden potentielle Liebeskranke beherbergte, ein Alleinsein schien da lächerlich zu sein, es war keine Frage der physischen Anwesenheit von Menschen, es ging nur um die Anwesenheit von – Liebe. Man war allein, weil man in der Vergangenheit ein noch ungelöstes Problem gehabt hatte, wie zum Beispiel eine unbewältigte Trennung, über die man nicht hinwegkam; oder man war allein, weil man ein grundsätzliches Problem in der Gegenwart hatte, das konnte schlicht das Pech der Unattraktivität sein, eine in den Kinderschuhen steckengebliebene Gefühlswelt, eine allgemeine Liebesunfähigkeit aus genetischen Gründen oder, wie Bastien nun von sich glaubte, eine der Egomanie geschuldete Schicksalhaftigkeit, die ihn zum beginnenden Misanthropen und Fool on the Hill machen würde. Für diese letzteren Punkte wurde man in der Regel gemieden und mitleidsvoll angestarrt, ein längeres Alleinsein konnte man schon als eine Form von Krankheit oder Aussätzigkeit begreifen, sie trennte einen von der Mehrheit der anderen, die allesamt zweisam und glücklich waren. Auch deren Trost, dass sich sicher alles ändern würde und er bald die wahre Frau seines Lebens finden würde, käme dann nur hölzern daher; ein überzeugter Single lebte zwangsläufig mit dem Implantat der Unveränderbarkeit, er wusste einfach, dass die Situation ausweglos war und blieb. Und vielleicht war es auch ganz einfach so, dass höhere Mächte ihre Hand im Spiel hatten – der griechische Held fiel immer noch, von den Olympiern für seine unaufmerksame Blindheit und Ignoranz mit dem härtesten aller Flüche bestraft, dem Alleinsein. So musste das Leben verebben – leise, ungesehen, ungehört, in eine Melancholie geschweißt, die ohnehin niemanden interessierte, war sie doch nur ein seifiger Sud des Eigenen. Merkmale: ein blödseliger Gesichtsausdruck, ein dauerhaftes Öffnen des Kühlschrankes, besonders nachts, die anhaltende Gewissheit, dass alles gut sei, so wie es war.
Der Strand, die Palmen, die Insel im Pazifik. – Wieder da.
*
Kirsten hatte sich etwas früher freigenommen und sich bereits auf den Weg gemacht. Da sie in einem Randgebiet wohnte, wollte sie die Gelegenheit nutzen, um noch einen Kaffee in der Stadt zu trinken; sie liebte das Treiben in den Straßen, die Arbeit und die täglichen Anfahrtswege zur Firma ließen ihr in der Regel keine Zeit dafür. Die letzten Meter von ihrem Lieblingscafé zu Bastiens Atelier konnte sie zu Fuß zurücklegen, bis dahin hatte sie Zeit für ihren sorgsam verwalteten Gefühlshaushalt, der seit gestern einmal wieder aus den Fugen geraten war. Er hatte sie am Tag seiner Ankunft angerufen, das war schlicht unglaublich, noch vor wenigen Tagen hatte sie daran gedacht, sich am nächsten Wochenende bei ihm zu melden, das wäre ein zeitlicher Abstand gewesen, den man nicht als aufdringlich hätte begreifen müssen, eher als angemessen, schließlich waren sie ja kein richtiges Paar. Und genau dort lag das Problem.
Sie hatte ihn vor vier Jahren kennengelernt, als er für ihre Firma, einen IT-Giganten, einige Illustrationen angefertigt hatte. Ihre Marketing-Abteilung wollte Skizzen zum Lifestyle-CI des Konzerns, die einen besonders künstlerischen Touch haben sollten, und da die zuerst angefragten Künstlerstars allesamt abgelehnt hatten (der Nähe zum Kommerz wegen), fiel die Wahl auf Bastien, der sich sofort einverstanden erklärte und auch eine, zumindest aus ihrer Sicht,
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