Geh auf Magenta - Roman
der Kneifzange? Auch so eine klassische Kreuzigung wäre fein und imposant, also los dann jetzt, eins und zwei und –. Er sah durch die erwartungsvollen Gesichter nach unten, eine junge Frau stand dort, setzte dann zaghaft ihren Fuß auf die Treppe und stieg höher. Gebannt sah er ihr zu, ihre Bewegungen kamen ihm sonderbar vertraut vor. Sie blickte nach unten auf die Stufen, stieg aber beständig weiter, und seine Aufregung wuchs, er fieberte ihr entgegen, sah, wie sie sich durch die Körper drängte und sich näherte. Erst jetzt nahm er den Schatten in ihrem Rücken wahr, ein unförmiges Gebilde mit einem Gesicht, das ihm ebenfalls vertraut war. Bedrohlich näherte sich ihr die Gestalt, streckte bereits eine klauenartige Hand aus, sie schien es nicht zu merken, lächelte ahnungslos und suchte seinen Blick in der Menge. Steif, wie angekettet, sah er den Schatten heranrücken, nur noch wenige Zentimeter trennten die Hand vom Schopf der Frau; hilf ihr doch , raunte Mel in sein Ohr, hilf ihr doch, sie schafft es nicht . Der Ruf gurgelte schleppend in seiner Kehle, entlud sich dann in einem Schrei, und Robs Stimme klang deutlich: »Jetzt penn endlich.«
Die Bilder verschwanden abrupt. Er drehte sich herum und zog die zerwühlte Decke wieder hoch. Nervös fragte er sich, was da bald alles die Treppe heraufkommen würde.
*
Am nächsten Tag, irgendwann zwischen 16 und 17 Uhr, konnte er sich schließlich nicht mehr zwischen den verschiedenen Bauch- und Seitenlagen entscheiden und stand auf. In seinem Kopf schienen sich galoppierende Hyänen ein Wettrennen zu liefern. Auch drehte sich das Atelier vor seinen Augen wiederholt um die eigene Achse und die Achse einer weiteren imaginären Achse; vier ASS-Akut halfen ihm für das Erste darüber hinweg, und seine Bilder standen nach einigen Minuten wieder auf dem gewohnten Platz.
Rob war gegangen, seine Daunendecke hatte er vorsorglich liegen gelassen. Bastien blickte dankbar auf den braunen Haufen neben der Matratze, Rob war wirklich sein bester Freund, er hätte ihn gestern nicht so beunruhigen sollen. Der erste Kaffee. Ein sinnloses Öffnen des Kühlschrankes. Der Gang zur Toilette und ein Betrachten zweier Fliegen beim Liebesspiel an der Wand, dann das Rauschen der Spülung, hohl, wie aus einer magischen Tropfsteinhöhle in der Tiefsee. Bevor er sich wieder in den Weiten des Pazifiks verlieren konnte, zog er die Hose schnell wieder hoch.
Er stellte den Computer an und las dann mit einiger Sorge seinen Aufruf auf der Facebook-Seite, es hatte niemand geantwortet. Zum Glück, wie er dachte, da könnten jetzt auch eine Million Todeshungrige seinen Server belagern, so einen Satz leitete man ja gerne weiter. Nein – das Leben war angesagt, jetzt, und dieses Leben bestand aus Mel. Er versuchte dreimal, sie anzurufen, jedes Mal sprang die Mailbox an, das war kein gutes Zeichen, in der Regel nahm sie immer sofort ab, wenn sie seine Nummer sah. Er wartete. Und dachte daran, dass er ihren Anrufbeantworter noch nie so bewusst wahrgenommen hatte, ihre freundliche, aber distanzierte Stimme wie aus einer anderen Welt, der Welt der Fremden, Unvertrauten, diese Stimme war nicht seine Mel.
Er wartete.
Aus dem Innenhof hörte er das Gelächter der Leute von der Müllabfuhr, richtig, es war Montag, sie kamen immer montags. Und am Donnerstag. Oder Freitag? Morgens? Abends? Nachts? Er schüttelte den Kopf und wartete weiter, sah sich dabei im Spiegel an der Wand. Menschen, die warteten, hatten einen besonderen Gesichtsausdruck, etwas seltsam Abwesendes lag darin, aber auch eine Anspannung, schließlich war der Zustand des Wartens ja einer vor einem zu erwartenden anderen, und man konnte nie wissen, wann dieser andere Zustand eintreten würde, deshalb konnte Warten eine ungemein spannende Angelegenheit sein; wenn man sie als solche begreifen wollte und nicht etwa dachte, dass man einfach nur auf etwas wartete .
Ihm fiel ein, dass er seine E-Mails durchsehen könnte, bestimmt hatten sich an die tausend Spams während seiner Abwesenheit angesammelt, oder auch gute und schlechte Nachrichten von seinen Galerien, wahrscheinlich Letzteres; in Situationen wie dieser bekam man ohnehin nur schlechte Nachrichten. – Ein Gedanke an den Briefkasten zu Hause, Mel hatte nichts gesagt, aber es musste ein Riesenstapel an Briefen für ihn bereitliegen, das zumindest war ein Grund, ihr noch einmal auf die Mailbox zu sprechen. Er drückte wieder ihre Nummer, wartete den Spruch ab und sprach mit
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