Geh auf Magenta - Roman
überflog die weiteren Sätze und stoppte bei zwei Zitaten:
»Was man Zuneigung nennt, ist in Wirklichkeit nichts anderes als eine Sympathie der Gewohnheit.«
Das war nicht wirklich zu verstehen.
»Die Gewohnheit ist so mächtig, dass sie uns selbst aus dem Bösen ein Bedürfnis macht.«
Das schon eher.
Es waren die trainierten Dinge des Alltags, die für die Illusion einer immerwährenden Gleichheit des Lebens sorgten, dachte er, die kleinen Bausteine eines Tagesablaufs, die Dinge, die man allein tat oder auch gemeinsam. Man erlebte sich dabei im Verwalten einer kommunalen Zeit, machte sich zum gegenseitigen Zeitzeugen eben dieses Alltags. Das mochte schön klingen, im Kern war es jedoch eine gefährliche Angelegenheit, sorgte das tägliche Miteinander doch für eine Gewohnheit, die sich sehr unkritisch als gut und richtig verstand. Eine anwährende Gewohnheit förderte so die Frustration eines vermeintlichen Stillstandes des Lebens, was sich gerne in Befürchtungen wie ich werde schon fünfunddreißig, ich werde schon vierzig, ich werde schon fünfundvierzig ausdrückte. So leistete die Gleichheit des Lebensablaufs dem körperlichen Verfall, dem herannahenden Tod und der zunehmend abnehmenden Lebenslust wohl den besten Vorschub, sein Geist sagte ihm daher klar und deutlich, dass eine jede Veränderung eine gute sei, der Humus, aus dem eines Tages ein besseres, schöneres, aufregenderes Leben erwachsen würde.
Allerdings hinkte dieser Geist dem tieferen Verständnis dessen, was eigentlich passiert war, hinterher; er steckte noch in der Gewohnheit einer dualistischen Reflexion – Fragen, Argumente und Gegenargumente, all das basierte auf den gleichen Fragen, Argumenten und Gegenargumenten von Mel, die es jetzt nicht mehr gab. Sein kognitiver Apparat argumentierte ins Leere und vermisste den trainierten Mitspieler, die Fragen kamen so zurück, wie er sie gestellt hatte. Es gab jetzt nur noch seine Fragen und Antworten, und da er diese bereits kannte, blieb eine Erkenntnis zwangsläufig aus. Nicht nur, dass der Schock der Veränderung ihn in die Nähe der Apathie rückte, das plötzliche Umstellen seiner Gewohnheiten ließ ihn sensibler fühlen als zuvor. Hunger, Durst, kleinere Gelüste, all das äußerte sich unmittelbar, die Liebe hingegen zeigte sich erst immer dann, wenn ihr Verlust drohte. Oder sie bereits irreparabel verlorengegangen war, so gesehen kam eine jede Erkenntnis nun zu spät.
Wie hatte das geschehen können, welcher Egozentrik hatte er diese Lage zu verdanken? Das schien das Wort zu sein, welches alles erklärte; denn zählte nicht immer nur das Eigene , dieses Nadelöhr der Wahrnehmung, das alles stets und immer nur in der Relation zu einem selbst begriff? So gesehen war der eigene Zustand alles , war die Welt; der Fühlende agierte als Demiurg seiner selbst, sein Schicksal war das Schicksal des Seienden, mit ihm entstand alles, mit ihm ging alles unter. Bastiens Geschichte schien nun der beste Beweis dafür zu sein, ein Beleg für einen unmenschlichen Verlust in seiner ganzen Tragik. Schwachkopf , dachte er bitter; mit einem Hauch weniger Oberflächlichkeit und einer Spur mehr Sensibilität hätte er jetzt noch der Alte sein können, glücklich mit Mel.
Seine Mel. Er hatte sie damals über eine gemeinsame Freundin kennengelernt, sie lachte unentwegt, und er war fasziniert von ihrem offenen und lebenslustigen Wesen. Später saßen sie noch bis tief in die Nacht an einem bierverklebten Tisch und redeten weiter erhitzt aufeinander ein, die Welt komprimierte sich auf die wenigen Zentimeter, die zwischen ihren Gesichtern noch Platz hatten, bis sie sich schließlich in die Arme fielen.
Sie lebte noch in einer Ehe, unglücklich, wie sie immer wieder betonte, er würde sich nicht um sie kümmern, vor allen Dingen nicht um die gemeinsamen Kinder, sie wüsste, dass sie ihren eigenen Weg zu gehen hatte. Darin hatte er sie dann immer wieder ermuntert, es sei bestimmt nur noch eine Farce, sie hätte etwas Besseres verdient. Dass er damit sich selbst meinte, lag auf der Hand, und schließlich hatte er sein Ziel erreicht; ihr Mann zog aus der gemeinsamen Wohnung aus und er einige Zeit später ein. Dann der erste gemeinsame Urlaub, dann der zweite, mit den Kindern, dann ein Teilen aller Lebensbereiche. Sie schienen schon bald einen gemeinsamen Blutskreislauf gebildet zu haben, ihre Freude war seine, seine Schmerzen waren ihre, alles verstand sich als ein anwährendes Wechselspiel des Auffangens, Gebens,
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