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Geh auf Magenta - Roman

Geh auf Magenta - Roman

Titel: Geh auf Magenta - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frankfurter Verlags-Anstalt
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dann mit wedelndem Schwanz weiterlaufen, wahrscheinlich, weil er ihn gesehen hatte. Und ein Windhauch würde die Pflanze im Wintergarten ein wenig bewegen.
    Sie hatte dieses Video ungezählte Male angesehen, ebenso die anderen, es waren genau sechzig.
    Manchmal hatte sie die Kassetten sehr schnell wechseln müssen, denn sie hätte peinliche Fragen über sich ergehen lassen müssen, wenn man sie erwischt hätte. Allerdings wäre man wohl kaum auf den Gedanken gekommen, dass sie auf dem Wohnzimmerschrank eine Kamera installiert hatte, gut versteckt in einem antiken Segelschiff-Modell, der HMS Victory .
    Die Victory war ein Jahr lang ihr Auge gewesen.
    Sie sah, wie er an den Tisch trat. Hinter ihm lief Jo, er tätschelte ihm kurz über den Kopf. Der Brief, den er öffnete, schien kein sehr erfreulicher zu sein, seine Mimik wechselte zwischen Wut und deutlicher Sorge. Er steckte ihn sich in die Jackentasche und ging wieder aus dem Bild. Eine kurze Zeit später kam er zurück und rief etwas in den Nebenraum hinüber, wohl zu ihrer Mutter; wahrscheinlich ließ er wieder seine schlechte Laune an ihr aus. Dann ein Cut, die Kassette war zu Ende. Sie ging in das Menü und klickte auf die nächste Kassette, der nächste Tag, sie hatten Besuch von Kunststudenten. Einer von vielen, er hatte sich immer als ein großzügiger Förderer ausgegeben; bei den jungen, natürlich, dachte sie, bei denen, die zu ihm aufsahen, so etwas mochte er. Einer der Studenten, der extra aus Berlin angereist war, hatte ein kleines Bild dabei, das an Comic-Zeichnungen erinnerte, jetzt ihr Bild, sie blickte kurz zur Wand hinüber, wo es jetzt stand. Es war das einzige Bild, das sie vor zwei Jahren von zu Hause mitgenommen hatte; vielleicht, weil sie sich so daran gewöhnt hatte, vielleicht, weil es von diesem Studenten war.
    Sie sah, wie er ihm einige Geldscheine zusteckte. Der Student redete viel und erklärte ihm wohl, worum es in dem Bild ging. Er schien ganz sympathisch und intelligent zu sein; bei einem anderen Besuch war sie ihm einmal begegnet, er hatte sie angelächelt und gesagt, dass er ihr einmal eine Grafik mitbringen würde, was er später vergessen hatte. Aber dafür hatte sie ja jetzt sein Bild.
    Eine kurze Zeit später verließen alle den Raum, und es passierte nichts weiter, nur Jo lief wieder zu seinem Wassernapf. Eine weitere Kassette, diesmal gab er der Haushälterin Geld, seine Hand an ihrer Taille war deutlich zu sehen. Allein schon mit diesen Bildern könnte sie ihm Ärger machen.
    Auf der Kassette 27 war sie selbst zu sehen, sie saß am Tisch über ihren Schularbeiten. Eigentlich machte sie die immer in ihrem Zimmer, aber seitdem sie die Kamera installiert hatte, wollte sie ihm möglichst viele Gelegenheit bieten, in das Wohnzimmer zu kommen. Sie sah sich etwas aufgeregt direkt in die Kamera schauen, dann zur Seite, er kam in das Bild. Es ging so zu wie immer, zuerst stellte er diese belanglosen väterlichen Fragen, wie es denn in der Schule gewesen wäre, wann sie wieder zum Reiten gehen würde und dass es der Mami bestimmt bald wieder besserginge, das mit dem Sanatorium sei ja nur für eine kurze Zeit. Wie immer legte er auch diesmal seine Hand auf ihre Schulter, kurz darauf beide. Dann begann er, langsam durch ihr Haar zu streichen, während sie stocksteif dasaß und keinen Ton von sich gab. Sie sah, wie sich sein Mund während der ganzen Zeit bewegte, man mochte an einen Zauberer denken, der beruhigend auf sein Kaninchen einredete. Er hatte ihr gesagt, dass Kinder manchmal dazu neigen würden, sich Dinge einzubilden, dass sie dann nicht mehr wirklich zwischen der Realität und ihrer Fantasie unterscheiden könnten. Sie dürfe diesen Fehler natürlich nicht machen, denn sie wüsste ja, dass er es immer gut mit ihr meinen würde. Außerdem wäre es ja auch manchmal so einsam, seitdem Mami nicht mehr da wäre, und er könnte nicht so gut allein sein, dann wäre es doch schön, wenn sie zusammenhalten würden; durch dick und dünn würden sie gehen, so wie immer, das würde sie doch auch schön finden? Natürlich würde sie das schön finden, und das alles sei ihr Geheimnis, das wüsste sie ja auch. Gleich würde die Stelle kommen, wo er sie von hinten umgreifen würde, sehr langsam, und immer lächelnd. Sie klickte auf PAUSE, das Bild stand still. An dieser Stelle klickte sie immer auf PAUSE oder STOP, denn das, was dann kam, konnte sie nicht mehr anschauen, sie hatte erst zweimal den Mut dazu gehabt und hatte Tage gebraucht, um

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