Geh aus, mein Herz
sehr er jemanden in seiner Nähe vermisste, mit dem er über die alltäglichen Kleinigkeiten und auch über die größeren Dinge reden konnte. Unvorbereitet, nicht geplant und nicht während einer begrenzten Zeitspanne an einem Kneipentisch. Oder in Gesprächen mit den Erregten und Verzweifelten. Nur mit seinen Kindern hatte er sich früher auf diese Weise unterhalten können. Wide war nicht besonders redselig; von Natur aus war er eher wortkarg, aber selbst ein Mensch mit dieser Veranlagung wollte manchmal etwas sagen, wenn nur jemand bereit war zuzuhören.
Er hatte es erst begriffen, als es zu spät war. Jetzt hüpften seine Gedanken zwischen den Wänden seiner Zweizimmerwohnung in Majorna hin und her, jagten sich in seinem Kopf im Kreis, immer schneller und verrückter, je mehr er trank. Er hatte auch früher getrunken, aber damals hatte er sich eingebildet, er trinke, weil es ihm Spaß mache. Als seine Ehe scheiterte, wurde ihm klar, dass keiner seiner Nächsten dieses Wohlbefinden nachvollziehen konnte, das er empfand, wenn er Alkohol getrunken hatte.
»Du, ich ruf Samstag noch mal an.«
»Bist du sicher, dass du Zeit hast?«
»Klar. Alles ist vorbereitet. Jetzt reden wir nicht mehr darüber, ja?«
»Nein, nein. Kommst du sie abholen?«
Sollte er das tun, sich ins Auto setzen und die Kinder aus Fredriksdal abholen?
»Gut, gegen elf. Ist Elsa da?«
»Nei… doch, warte mal, da kommt je… Elsa? Els… ja, sie ist es, warte, sie muss sich nur erst die Stiefel ausziehen. Da ist sie. Tschüs.«
Er hörte die Geräusche aus dem Haus am anderen Ende der Stadt, das Scheppern, als der Hörer zu Boden fiel, ein »Oje!« und eine Stimme:
»Papa!«
»Hallo, mein Schatz.«
»Wir kommen dich Samstag besuchen.«
»Ich weiß.«
»Machst du uns was Gutes zu essen?«
»Klar.«
»Und was?«
»Das verrat ich nicht.«
»Ich bin Vegetarierin geworden. Die vegetarischen Gerichte in der Schule schmecken mir besser als die anderen.«
»Das ist klug von dir. Es ist gesund, wenn man nicht so viel Fleisch isst.«
»Aber ich mag Hühnchen sehr gern – dein Spezialgericht. Kann man das essen, obwohl man Vegetarier ist?«
Er hörte ihre bekümmerte kleine Stimme.
»Das entscheidet man selber. Man kann mein Spezialgericht essen und gleichzeitig Vegetarier sein.«
»Bestimmt?«
»Klar.«
»Dann will ich das.«
»Was willst du?«
»Vegetarierin sein und dein Spezialgericht essen.«
»Gut, also gibt es Hühnchen.«
Er hörte ein kleines Lachen.
»Freust du dich auf die Ferien?«
»Jaaa, wir hatten so viele Hausaufgaben. Was wollen wir machen?«
»Pläne hab ich noch nicht. Vielleicht zum Südpol fliegen.«
»Oder nach Amerika. Wir haben was über Amerika gelernt.«
»Vielleicht Amerika. Aber Samstag, hab ich gedacht, fahren wir erst mal nach Lilleby.«
»Können wir nicht Feuerholz mitnehmen und Würstchen grillen?«
»Genau das hatte ich eigentlich vor.«
»Hurr…«
Er hörte, wie die Freude mittendrin abbrach.
»… aber das geht ja nicht.«
»Warum nicht?«
»Ich bin doch Vegetarierin!«
»Ich glaube, anfangs darf man ruhig mal gegrillte Würstchen essen, auch wenn man beschlossen hat, Vegetarier zu werden – besonders, wenn die Würstchen auf einem Felsen am Meer gegrillt wurden.«
»Wirklich?«
»Doch, bei einer solchen Gelegenheit.«
»Dann machen wir das! Aber ich weiß noch nicht, ob ich sie essen werde.«
»Ist schon in Ordnung.«
»Falls du noch mit Jon reden wolltest, das geht nicht. Er ist bei seinem Freund.«
»Wer ist das?«
»Niklas. Er wohnt oben auf dem Hügel.«
»An den kann ich mich gar nicht erinnern. Ist er da neu eingezogen?«
»Ja, zusammen mit seinen Eltern und seinem großen Bruder.«
»Also ist Niklas noch nicht von zu Hause ausgezogen.«
»Nee, du Dummi.«
Aber er hörte, dass ihre Stimme nicht mehr so stark klang. Er hätte sich in den Hintern beißen mögen und wünschte, er hätte den Mund gehalten. Der Scherz wurde auf der Stelle flau, daran hatte er nicht gedacht: Es war zwar nicht seine Idee gewesen, aber er hatte sich von seiner Familie getrennt, und Kinder sind die Letzten, die so etwas vergessen. Wie hatte er das vergessen können? Er war ein Idiot.
»Elsa?«
»Ja?«
»Ich freu mich auf euch.«
»Ja.«
»Wir sollten uns ein bisschen öfter sehen.«
»Ja. Können wir uns nicht auch in dieser Woche treffen?«
»Das wäre prima.«
»Nach der Schule.«
»Gut.«
»Falls du nicht arbeitest.«
»Nee, ich sorg dafür, dass ich nach der Schule nicht
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