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Geh aus, mein Herz

Geh aus, mein Herz

Titel: Geh aus, mein Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ake Edwardson
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da. Sie wollten mir Fragen stellen.«
    »Wie ich schon am Telefon sagte, brauche ich Informationen über eine frühere Schülerin, Ulla Bergsten.«
    »Ich versteh schon, warum. Eine schreckliche Geschichte. Entsetzlich.«
    »Sie war Schülerin dieser Schule.«
    »Das macht die Geschichte ja so entsetzlich, wenn ich das so ausdrücken darf. Wenn man davon hört … darüber liest …«
    Wide wartete darauf, dass der Mann weitersprechen würde, aber er schwieg. Vor der geschlossenen Tür hörte Wide Kinder vorbeirennen, Getrappel und Wortfetzen, die durch die Wand drangen. Fünf Sekunden später war es wieder still. Der Hagel gegen die Fensterscheiben hatte aufgehört.
    »Ich weiß, was Sie jetzt denken.«
    Nils-Ewert Bengtsson sah Wide amüsiert an.
    »Wie bitte?«
    »Ich weiß, was Sie denken. Sie denken, an mehr kann sich der Alte nicht erinnern.«
    »Keineswegs.«
    »Aber Sie hätten Recht, wenn Sie es gedacht haben. Nicht vollkommen, aber ein wenig. Ich mag ja ganz munter für mein Alter wirken, aber mit meinem Gedächtnis ist es nicht mehr weit her.«
    Wide schwieg.
    »Vielleicht enttäusche ich Sie – die lange Fahrt, die Sie auf sich genommen haben. Aber stellen Sie Fragen, mal sehen, was mir dann noch einfällt. Außerdem habe ich mich ein wenig vorbereitet.« Der Mann erhob sich und ging zu einem Bücherregal, holte einen Ordner heraus, kehrte zurück und zog etwas aus einer Plastikhülle, die in dem Ordner steckte.
    »Auch wir hier im Westen haben unsere Schüler im Bild festhalten lassen«, sagte er und hob das Blatt ein wenig hoch.
    »Ich unterrichtete diese Klasse … Hier ist sie.«
    Er hielt ein Bild hoch. Wide erhob sich, ging um den Schreibtisch herum, stellte sich neben den alten Mann und beugte sich vor. Ein langer, knochiger Zeigefinger tippte auf das Gesicht eines Mädchens.
    »Das ist Ulla Bergsten.«
    Sie war es, Wide erkannte sofort die Züge, die sich im Lauf der Jahre vertieft und verbreitert hatten – und schließlich mit grausamen, wahnsinnigen Schnitten zerstört worden waren. Er schüttelte die Erinnerung ab und betrachtete wieder das Mädchengesicht auf dem Klassenfoto vom Frühling 1962: Denselben Blick unter der Tolle, das kleine, schiefe Lächeln hatte er auch auf dem Foto vom Sommerlager gesehen.
    »Ein etwas anstrengendes Kind.«
    Wide richtete sich auf und kehrte mit dem Foto in der Hand zu seinem Stuhl zurück. Er sah dem Mann gegenüber ins Gesicht.
    »An so viel kann ich mich tatsächlich erinnern. Sie war natürlich eine meiner Schülerinnen, aber das heißt nicht, dass ich mich besonders gut an sie erinnere. Wir haben uns manchmal in einer anderen Funktion getroffen – in einer meiner anderen Funktionen.«
    Wide wartete. Draußen hatte es wieder angefangen zu regnen oder zu hageln; er hörte das Geprassel gegen die Fensterscheiben, schaute aber nicht hin.
    »Sie kam aus schwierigen Verhältnissen, wie man so sagt. Die kleine Ulla wäre am liebsten nicht in die Schule gegangen, und deswegen musste ich manchmal in meiner Eigenschaft als Direktor ein ernstes Wort mit ihr reden.«
    Wide hörte zu.
    »Wenn sie wollte, erbrachte sie ziemlich gute Leistungen, glaube ich. Aber sie wollte nicht. Sie war anders als die meisten anderen. Ich glaube, sie trieb sich auch viel mit Jungen aus einem anderen Stadtteil herum.«
    »Dem südlichen Hinterland.«
    »Vielleicht, eine kleine Clique, ich habe nie nachgeforscht.«
    »Musste sie eine Klasse wiederholen?«
    »Ich weiß noch, dass wir es erwogen haben. Aber was hätte das gebracht? Es hätte die Einstellung des Mädchens zur Schule nicht verändert.«
    »Was ist mit ihr passiert?«
    »Das wissen Sie besser als ich.«
    »Ich meine vorher. Bevor sie erwachsen wurde.«
    »Da hört meine Erinnerung auf. Sie ist nach der Sechsten abgegangen. Ich habe mich ein bisschen umgehört, seit wir miteinander telefoniert haben, aber in der Stadt gibt es keine Angehörigen mehr. Sie hat bei ihrem Vater gelebt, keine Geschwister. Der Vater war damals schon alt, er ist mittlerweile gestorben. Wir haben damals mit den Sozialbehörden verhandelt; ich glaube, die wollten das Mädchen der Fürsorge übergeben, weil der Vater trank. Aber ich glaube, sie ist dann doch bei ihm geblieben.«
    Erneut betrachtete Wide das Foto. Die Körperhaltung des Mädchens wirkte wie »auf dem Sprung« – fort von der Klasse, der Schule und dem Fotografen. Er schaute sich die anderen Gesichter genauer an.
    Und sein Blick blieb an einem Gesicht in der oberen Reihe hängen, ganz

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