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Geh nicht einsam in die Nacht

Geh nicht einsam in die Nacht

Titel: Geh nicht einsam in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kjell Westoe
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den älteren Honoratioren sachlich höflich auftreten.
    Er hatte sich vorgenommen, Abgeordneter im Europaparlament zu werden, und ich wusste, dass ihm dies gelingen würde, denn wenn Jouni Manner sich etwas vornahm, konnte er Berge versetzen. Außerdem sah ich noch etwas, was mich begreifen ließ, warum Manners Resultate bei den letzten Urnengängen seine besten gewesen waren: Er hatte endlich gelernt, seine harte und kühle Seite zu verbergen, wenn er sich in der Öffentlichkeit bewegte.
    Manner und ich kamen den ganzen Abend nicht dazu, uns zu unterhalten, er wurde umschwärmt wie nie zuvor. Zwei Mal begegnete sein Blick jedoch meinem, und dann erhoben wir unsere Gläser und lächelten uns an. Die Botschaft in seinem Blick war eindeutig, ich kannte sie noch aus den Jahren, in denen wir eng zusammengearbeitet hatten: Bleibe bitte, wenn die anderen gehen, consigliere!
    »Es freut mich, dass du geblieben bist, Frank«, sagte Manner, »wir haben uns schon lange nicht mehr unterhalten.«
    Die letzten torkelnden Gäste waren endlich gegangen. Sirpa hatte sich in das Innerste der Wohnung zurückgezogen, genau wie die jüngste Tochter Heli, die beschlossen hatte, bei ihrem Vater zu übernachten. Manner und ich waren in dem gigantischen Wohnzimmer allein, er und ich und draußen natürlich die Winternacht. Ich musterte ihn verstohlen: Nach all den Reden, die er sich hatte anhören müssen, und nach allen Toasts hätte er erschöpft sein müssen, aber er wirkte lebhaft und hellwach.
    »Aber ich wollte nicht nur mit dir sprechen«, fuhr Manner fort, »ich wollte dir auch etwas zeigen. Komm mit!«
    Er hatte ein Arbeitszimmer am anderen Ende der Wohnung, dessen Tür während der Geburtstagsfeier abgeschlossen gewesen war. Nun zog Manner ein Schlüsselbund heraus und öffnete sie.
    Auf Manners ansonsten leerem Schreibtisch lag eine Reihe vergilbter Blätter in unterschiedlichen Größen ausgebreitet. Die meisten waren relativ klein, viele waren ausgefranst, manche bräunlich. Insgesamt waren es vielleicht zwanzig, und alle sahen so spröde aus wie Butterbrotpapier, das im Ofen gewesen war. Ich war mir nicht einmal sicher, dass es wirklich Papier war, so seltsam sahen einige dieser Blätter aus.
    Als wir an den Tisch traten, sah ich, dass es Zeichnungen waren, die meisten mit Bleistift, ein paar mit bunten Kreiden angefertigt. Sie waren ausnahmslos gelungen, aber die Motive variierten gelinde gesagt. Auf vielen Zeichnungen war eine junge blonde Frau dargestellt. Sie war schön, hatte lockiges Haar und runde Wangen und fast unnatürlich sanfte Gesichtszüge. Die übrigen waren ganz anders. Es waren Höllenvisionen, Menschen mit verstümmelten, weggeschossenen Gliedmaßen oder durchstochenen Augen und Gesichtern, die bis zur Unkenntlichkeit entstellt waren. Auf einigen Bildern schoss Blut aus kopflosen Hälsen, das Blut strömte kräftig und dick wie eine Fontäne.
    »Ich habe sie in einem Koffer auf dem Dachboden meiner Mutter gefunden«, erläuterte Manner. Er betrachtete die Zeichnungen nachdenklich und ergänzte: »Mein Vater muss sie gemacht haben.«
    Er musste kurz wegschauen, nur ein flüchtiger Blick aus dem Fenster, hinter dem ein Wäldchen lag, nur ein flüchtiger Blick ins Schwarze, aber er entging mir nicht. Dann hatte er sich wieder im Griff.
    »Als Porträtist war mein Alter wohl eher Romantiker. Ich habe Jugendfotos meiner Mutter gesehen und weiß, dass sie ganz hübsch aussah, aber so schön war sie nicht.«
    »Diese anderen …«, sagte ich.
    »Ja, diese anderen«, sagte Manner, nahm vorsichtig eine der kunstvoll gemachten, aber grauenvollen Kriegszeichnungen in die Hand, schüttelte den Kopf und sagte: »Ich habe nie jemandem von meinem Vater erzählt. Und ich habe es auch jetzt nicht vor. Aber er war ziemlich« – Manner zögerte einen Moment und schien nach dem richtigen Wort zu suchen – »kaputt.«
    »Da war er nicht der Einzige«, meinte ich und dachte an meinen Großvater, der schon zwanzig Jahre tot war, als ich geboren wurde, und an Henrys Vater Axel, an den ich mich auch nicht erinnerte. Und an Ariel Wahls Vater, meinen richtigen Großvater, über den keiner, nicht einmal Jouni Manner etwas zu wissen schien.
    »Man begreift ja irgendwie ein bisschen besser …«, sagte Manner und machte eine schlampige Geste zu den Kriegszeichnungen hin. Jetzt sah ich, dass er ziemlich betrunken war: Das passierte ihm nur noch selten.
    »Das Los des finnischen Mannes«, fuhr er mit derselben belegten Stimme fort.

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