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Geh nicht einsam in die Nacht

Geh nicht einsam in die Nacht

Titel: Geh nicht einsam in die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kjell Westoe
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»Lieder über zärtliche Liebe singen und Engel zeichnen, aber rohe Dinge tun.«
    »Werd jetzt nicht sentimental, Jone«, sagte ich. »Wir können unsere Grausamkeit nicht Generation für Generation auf die verdammten Kriege schieben.«
    »Der Krieg ist ein verdammter Fluch«, murmelte Manner leise.
    »Was hast du mit ihnen vor?«, fragte ich behutsam.
    »Tja, zum Teufel … was meinst du?«
    »Bewahr sie auf«, antwortete ich. »Du brauchst sie ja nicht täglich anzuglotzen, wenn du nicht willst. Und du musst sie auch nicht weitervererben, du kannst sie einem Museum schenken.«
    Wir verließen Manners Arbeitszimmer. Die Zeichnungen blieben auf dem Schreibtisch liegen, und er schloss die Tür hinter uns ab. Im Wohnzimmer schenkte Manner sich einen Whisky ein und sagte:
    »Du weißt ja, dass ich dich gerne zu einem richtig guten Tropfen einladen würde. Aber du weißt auch, warum ich es nicht tue.«
    »Und damit hast du vollkommen Recht«, sagte ich.
    »Das ist so ein Moment im Leben, Frank, in dem man ins Grübeln kommt. Vor allem wenn man gerade den vielleicht wichtigsten Menschen in seinem Leben verloren hat … du weißt schon.«
    Ich dachte, dass ich es eher nicht wusste. Nicht ganz. Es gab immer noch Momente, in denen ich Leeni vermisste und mir wünschte, wir hätten uns öfter unterhalten. Aber ich bildete mir nicht ein, dass Leeni mir so viel bedeutet hatte wie Elina Manner dem Mann mir gegenüber.
    Aber ich widersprach ihm nicht, sondern nickte und lauschte anschließend geduldig einer Geschichte, die Manner mir erzählen wollte.
    Er hatte im Plenarsaal des Parlaments gesessen und sich unwohl gefühlt. Es sei letztes Jahr gewesen, sagte er, an einem warmen und schönen Tag Ende Mai oder Anfang Juni. Er brach auf, tischte dem Fraktionsvorsitzenden auf, er hätte einen wichtigen Termin in der Stadt, was überhaupt nicht stimmte. Er beschloss, seine Mutter zu besuchen, ließ das Auto jedoch stehen und ging stattdessen über den Mannerheimvägen. Er kreuzte den Hof des Stadtmuseums und gelangte zur Tölöviken, an deren Ufer er entlangging und sich an einen Sommer erinnerte, in dem er dort als blutjunger Mann gesessen und über seine Zukunft verhandelt und von einem genauso schönen Hemd geträumt hatte, wie Redaktionsleiter Kantola es getragen hatte. Er nahm den Weg über Fågelsången und die Eisenbahnbrücke und durchwanderte anschließend die Häuserblocks, die er früher wie seine Westentasche gekannt hatte. Er schlenderte am Tokoiufer entlang und durch das frühere Hamppardalen, wo in dem schönen Wetter Alt und Jung zusammensaßen und tranken, genau wie in seiner Jugend, genau wie zu allen Zeiten. Er ging die Broholmsgatan hinauf, stellte sich an die Ecke der Fjärde linjen und ließ den Blick über die Gebiete schweifen, in denen er einst ein König gewesen war. Es hatte sich kaum etwas verändert, nur das Hochhaus des Finanzamts ragte im Osten in die Höhe. Manner stand mit der Kirche im Rücken, rechts von ihm führte die Straße an Selma Palmus’ Schaufenster mit den vielen BHs und Slips vorbei bis zur Castrénsgatan, in der er einmal gewohnt hatte. Aus der Västra Prästgatan schlug ihm der Duft einer Traubenkirsche entgegen, so sollte es sein. Als er zum Hagnäs torg hinabblickte, sah er eine Ecke des Arena-Gebäudes und in weiter Ferne das Dach der Universitätsbibliothek und den spitzen Turm der Deutschen Kirche, so sollte es sein. Dann aber sah er sie, die Anomalie, den Frevel: den fetten gelben Buchstaben M , der auf einem der Häuserdächer am Platz thronte, er stand da und schwang in der warmen Brise vor und zurück.
    »Ich meine, auf diesem Platz!«, sagte Manner und lallte dabei ein wenig. »Ich weiß doch noch, wie es dort beim Generalstreik aussah, mein Alter saß zwar gerade im Bau, aber sonst war das ganze verdammte Arbeiterviertel auf den Beinen und demonstrierte. Der Platz war voller Menschen, bestimmt fünfzigtausend, wenn nicht sogar hunderttausend. Und die meisten von ihnen waren verdammt nochmal Kommunisten!«
    »Du besuchst dein altes Viertel anscheinend nicht besonders oft«, meinte ich. »Den McDonald’s gibt es da schon seit ein paar Jahren.«
    Manner nahm einen großen Schluck aus seinem Glas und sagte:
    »Es ist eine verdammte Reise, die wir alle gemeinsam zurückgelegt haben. Ich glaube nicht, dass du dir vorstellen kannst, welche Sorgen sich meine Mutter darum machte, was aus Oskari und mir werden sollte. Und was bekam sie? Einen Parlamentsabgeordneten und einen Bullen!

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