Geh nicht einsam in die Nacht
Aber weißt du was, eins muss ich zugeben. Es ist dreißig Jahre her, dass ich aufhörte, mich mit anderen anzulegen, aber wenn ich Oskari begegne, fühle ich mich jedes Mal wieder wie ein Halbstarker. Mein Bruder ist so verdammt ernst, der schlägt nie mal über die Stränge und lässt sich gehen!«
»Ihr scheint ziemlich verschieden zu sein«, pflichtete ich ihm bei.
»Ich wünschte, meine Mutter hätte diesen Tag erleben dürfen«, murmelte Manner undeutlich, denn mittlerweile war er sturzbetrunken. »Weißt du, Frank, als sie einmal ein paar Gläser Sherry intus hatte, das ist jetzt viele Jahre her, behauptete sie doch tatsächlich, ich sei in einem Park gezeugt worden. Nur weil alle so beengt wohnten, sie und mein Vater konnten sonst nirgendwo zusammen sein!«
»Ich weiß, es waren andere Zeiten«, sagte ich höflich.
»Denk ja nicht, ich wüsste nicht, was deine Generation über meine denkt«, fuhr Manner trotzig fort. »Speichellecker, denkt ihr. Sowjethörige, DDR-Albernheiten, Kekkoslowakien. Aber ich habe weiß Gott ein reines Gewissen. Ich gehörte nicht einmal dem inneren Zirkel an, ich hatte keine inforhick … informellen Kontakte zur sowjetischen Botschaft!«
Er hatte einen Schluckauf, und ich fragte mich allmählich, ob ich ihn nicht davon abhalten sollte, noch mehr zu trinken: Seit unserem Metropol-Sommer in den Achtzigern hatte ich ihn nicht mehr so betrunken gesehen. Aber ich kam nicht zum Eingreifen, Manner sprach schon weiter:
»Weißt du, Frank, man kann in der Gegenwart nicht leben, ohne Kompromisse zu schließen. Die Gegenwart ist ein Pragmatiker, die Geschichte ist ein Moralhick … Moralist. Kapiert?«
»Kapiert«, bestätigte ich.
»Die Wirklichkeit besudelt uns alle. Reinheit gibt es nur im Kloster, wenn überhaupt. Das wirst du auch noch merken. Vielleicht bist du sogar schon besuhick … besudelt, ohne es zu wissen. Von diesem gelben Buchstaben oder etwas anderem.«
»Ich hol dir ein Glas Wasser«, sagte ich, stand auf und setzte Kurs auf die Küche. »Vielleicht wirst du dann deinen Schluckauf los.«
Ich war nicht ganz ehrlich, natürlich wollte ich Manner bei seinem Schluckauf helfen, aber ich wollte mir auch seinen Monolog ersparen, der nirgendwohin führte. Ich wollte den Abend beenden und heimfahren.
»Eva Mansnerus und ihre Tochter sind nach Schweden gezogen«, sagte ich dennoch, als ich mit dem Wasserglas zurückkehrte. »Vor ihrer Abreise hat sie mir Adrianas Tagebücher gegeben. Weißt du etwas über sie?«
Manner nahm mir das Wasserglas aus der Hand und warf mir einen erstaunten Blick zu.
»Tagebücher? Ich wusste nicht einmal, dass Addi welche geschrieben hat. Aber es überrascht mich eigentlich nicht, sie war eine Grüblerin, und Grübler führen oft Tagebuch.«
»Bisher bin ich nur dazu gekommen, ein bisschen darin zu blättern. Ehrlich gesagt scheinen sie ziemlich seltsam zu sein. Hattest du keine Angst vor ihr?«
Jouni schüttelte den Kopf.
»Nein, nie. Ich kannte sie so gut. Seltsame Menschen sind oft vor allem gefährlich für sich selbst. Ich hatte immer Angst, dass sie sich etwas antun würde.«
Er trommelte ungeduldig auf seinem Whiskyglas und ergänzte:
»Ich finde, du solltest diese Tagebücher lesen, wenn du Zeit hast. Sie war auch klug.«
Sobald ich über Eva und Adriana sprach, riss Manner sich zusammen. Es wäre sicher falsch zu sagen, dass er nüchterner wurde – er war viel zu betrunken, um auf einen Schlag nüchtern zu werden –, aber er lallte nur noch halb so schlimm. Stattdessen überkam ihn Rastlosigkeit. Es war ein Zug, der mir erst in den letzten Jahren an ihm aufgefallen war, nachdem wir unseren Kontakt erneuert hatten und uns wieder häufiger trafen: Als hätte Manner etwas sagen wollen, als hätte er einem etwas Wichtiges mitzuteilen, wofür ihm jedoch leider die Worte fehlten. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass diese Unruhe oder dieses Unstete mit mir zusammenhing, aber seine Rastlosigkeit verschwand immer ebenso plötzlich, wie sie aufgetaucht war, und danach war wieder alles wie zuvor.
Manner sagte auch jetzt nichts, er stierte in sein Glas, und sein Rausch schien ihn nun eher zu deprimieren. Ich sah auf meine Uhr, es war fast halb vier, so dass ich mich räusperte und fragte, ob ich mir ein Taxi rufen könne.
Kurz darauf stand ich im Eingangsflur und zog Schal, Handschuhe und Mantel an. Manner lehnte mit seinem Glas in der Hand an der Wand. Wir flüsterten, denn das Gästezimmer, in dem Heli schlief, schloss an den Flur
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