Geh nicht einsam in die Nacht
zusammenleben.
Es war ein kalter Winter, fast so kalt wie der Winter, in dem Nadia geboren wurde. Ich sah, dass Eva vor dem Sprung zögerte, ihren Umzug bezeichnete sie mehrmals als einen »Versuch«. Ich wunderte mich nicht, denn außer mit Nadia hatte sie mit niemandem zusammengelebt, seit sie Joaquín hinausgeworfen hatte, und das lag inzwischen zwölf Jahre zurück.
Unsere Unterhaltung verlief schleppend, und es gab einen Moment, in dem Eva uns beiden noch einen Kaffee holte und ich in einer der Boulevardzeitungen versank und gedankenverloren weiterlas, als sie zurückkehrte. Ich sah eine Notiz zu einem Todesfall und kommentierte sie zerstreut:
»Stenka Waenerberg ist gestorben, der Popmanager. Lungenkrebs, steht hier.«
Eva horchte auf.
»Seltsam, dass du ihn erwähnst.«
»Wieso?«
»Weil ich dir die hier geben wollte«, antwortete sie und suchte aus ihrer geräumigen Umhängetasche einen riesigen, wattierten Umschlag heraus. Sie legte ihn auf den Tisch, schob ihn mir zu, zeigte darauf und sprach weiter:
»Ich glaube, er kommt darin vor. Das sind Addis Tagebücher. Seit ihrer Pubertät und aus der Zeit mit deinem Vater und Manner. Waenerberg war ihr Manager, wusstest du das nicht?«
»Doch. Manner hat es einmal erwähnt. Er mochte Waenerberg nicht.«
»Es geschieht ihm recht, dass er gestorben ist«, erklärte Eva in einem seltsamen Tonfall, sachlich, aber auch angespannt. »Ich hoffe, er hatte Schmerzen.«
»Du legst dich ja mächtig ins Zeug«, bemerkte ich.
Eva zuckte mit den Schultern und schwieg.
»Du meinst, dass ich Adrianas Tagebücher bekommen soll?«, fragte ich rhetorisch. »Warum?«
»Es stehen auch Dinge über deinen Vater darin«, antwortete Eva. »Es ist nicht viel, aber immerhin etwas. Die Aufzeichnungen gehen bis kurz vor ihrem Tod.«
Sie sah mich ruhig an:
»Manches darin ist ziemlich schrecklich. Vielleicht kannst du etwas daraus lernen, wenn du es liest.«
Als sie diese letzten Worte aussprach, durchwehte sie etwas, ein dunkler Schatten huschte über ihr Gesicht. Das Café, in dem wir saßen, hatte eine warme, gemütliche Atmosphäre, aber ich ahnte, dass sie sich daran erinnerte, was ich ihr in einer Vorsommernacht in ihrem Schlafzimmer angetan hatte. Ich versuchte, meine Schuldgefühle zu verdrängen, und sagte:
»Hast du keine Angst, dass ich sie … in einem literarischen Projekt benutzen könnte?«
»Ich möchte nicht, dass du die furchtbarsten Stellen irgendwem gegenüber zitierst, Kapi«, sagte Eva. »Aber ansonsten machst du damit, was du willst.«
Sie lächelte mich an, und der dunkle Schatten war so schnell verschwunden, wie er aufgezogen war.
»Ich vertraue dir.«
Noch am selben Abend öffnete ich den Umschlag und las an verschiedenen Stellen in den Tagebüchern.
Die beiden Bücher aus ihrer frühen Jugend waren säuberlich geschrieben und besaßen eine deutliche innere Chronologie. Ab Mitte der sechziger Jahre löste sich die Chronologie jedoch allmählich auf, Buch für Buch wurden ihre Notizen immer sporadischer und schwerer zu deuten. In den letzten Tagebüchern fehlte jegliche Chronologie. Datierungen gab es nur in Ausnahmefällen, und es kam einem vor, als hätte Adriana das gerade aktuelle Tagebuch willkürlich aufgeschlagen und auf irgendeiner leeren Seite angefangen zu schreiben. Gleichzeitig wurden ihre Aufzeichnungen Jahr für Jahr verwirrter. Aber auch begabter. Die treffendsten Einfälle gab es am Ende, Gedichtfragmente und Sentenzen, die wie dunkle Juwelen mitten in einem Chaos aus kryptischen Äußerungen und Weltuntergangsprophezeiungen aufblitzten.
Adrianas Tagebücher erschreckten mich, und es sollten viele Jahre vergehen, bis ich es wagte, mich ernsthaft in sie zu vertiefen.
* * *
Jouni Manner feierte seinen fünfzigsten Geburtstag an einem Mittwintertag alter Schule. Die Schneewälle lagen höher als seit langem, aus den Schornsteinen der Kraftwerke stieg federbuschdick der Rauch, und es war so kalt, dass man husten musste, wenn man zu tief einatmete. Und schräg über allem glomm die Sonne wie die orange Probe einer fernen, gefrorenen Materie.
Nach dem morgendlichen Kaffee arbeitete ich ein paar Stunden und nahm anschließend die Linie zehn ins Zentrum. Ich schaute bei einem Immobilienmakler vorbei, den ich kannte, und bat ihn, in der Innenstadt nach einer passenden Wohnung für mich Ausschau zu halten. Die Wohnungspreise stiegen wieder, und ich verfluchte mich dafür, dass ich Leenis Erbe versoffen hatte, statt das Geld in eine
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