Geh nicht einsam in die Nacht
waren, ohne auch nur eine Minute geschlafen zu haben. So viele Tote und das nur, weil sie die Finger nicht vom Schnaps lassen konnten. So war es bei Sulo und Konkanen auch gewesen. Aber da waren es nur zwei, die zu Grunde gerichtet wurden. Tja, und wir, die nächsten Angehörigen natürlich. Vielleicht waren diese Flieger ja auch Kriegsveteranen. Einfach zum Teufel mit allem, mit allen Träumen von Glück und Liebe und ich weiß nicht was. Elina schüttelt sich missgelaunt und blättert zu den Kinoanzeigen weiter. Sie sieht, dass im Tuulensuu mal wieder »Vom Winde verweht« läuft. Aber den hat sie schon, noch dazu mehrmals, gesehen. Diesen Monat kann ich sowieso nicht ausgehen, alles Geld ist für Jounis neue Schuhe draufgegangen, eigentlich sollten sie ja sein Geschenk zum Fünfzehnten sein, aber er kann ja nie warten. Sie hat keine Lust mehr zu lesen, greift stattdessen zu einer Illustrierten und versucht, ein Kreuzworträtsel zu lösen, kann sich aber nicht konzentrieren. Sie wirft einen Blick auf die Wanduhr und sieht, dass es zu spät ist, um noch Radio zu hören: Die Nationalhymne ist bereits gespielt worden, es ist Sendeschluss. Aber wo um Himmels willen treibt sich jetzt eigentlich der Junge herum? Sie legt das Rätsel weg, steht auf, geht zur Bettcouch. Oskari hat im Schlaf die Decke fortgestrampelt, und sie deckt ihn wieder zu. Jounis Stahlbett an der anderen Wand steht leer, das Bett ist schlampig gemacht worden, aber Elina ist zu müde, um daran etwas zu ändern. Sie geht zum Herd und kocht sich noch eine Tasse Tee, ihre dritte, und weiß, dass es mit dem Schlaf nichts werden wird. Aber es ist Sonntag, wenn er endlich heimkommt, kann ich bis Viertel vor acht schlafen, dann fängt das Radioprogramm an. Aber seit es das Frühstückscafé nicht mehr gibt, läuft ja eh nichts mehr, was man hören will. Der Tarva ist jetzt beim Fernsehen, aber so einen Apparat können sich kleine Leute wie ich doch nicht leisten.
Sie greift nach ihrer Teetasse, setzt sich wieder an den Esstisch und schaut auf die leere Straße hinaus. Ihr Blick fällt auf das Schild des Restaurants Tuulo an der Ecke, und unmerklich verlässt sie die Gegenwart und beginnt, sich an das Leben zu erinnern, wie es sich seit der Geburt ihrer Kinder entwickelt hat. Sie entsinnt sich der ersten furchtsamen Jahre nach dem Krieg, als Shdanow und seine Männer im Hotel Torni hockten und die Einwohner der Stadt das Hotel mieden, als behauptet wurde, es gäbe überall vergrabene Waffen, als manche Menschen nach Amerika flohen, während andere mit einem neu gewonnenen Glauben an sich und ihre Sache herumliefen. Sulo hätte zu ihnen gehören können, wenn er gewollt hätte. Immerhin war sein Vater im Sommer 1918 hingerichtet worden, und dieser Kullervo Manner, der die Regierung der Roten führte, war ein entfernter Verwandter von ihm. Aber Sulo interessierte sich nicht für Politik, er war zu sensibel, im Grunde seines Herzens war er ein Künstler, obwohl er nur Schriftsetzer war, das sah man an seinen Bleistiftzeichnungen: Auf ihnen war es ihm sogar gelungen, sie, Elina, zu einer Schönheit zu machen, sie, die doch so unscheinbar und hässlich aussah. Sulo sprach nie über Politik; wenn andere anfingen zu agitieren und sich zu streiten, zog er sich zurück und schwieg. Elina sagte er, die Jahre im Kinderheim der siegreichen bürgerlichen Seite hätten ihn gelehrt, das Maul zu halten und sich um seinen eigenen Kram zu kümmern. Das sagte er ihr an einem Winterabend, als die Jungen klein waren und Sulo und sie noch miteinander sprachen. Damals waren sie endlich in eine eigene Bleibe am hinteren Ende des Mannerheimvägen, eine kleine Mietwohnung im achten Stock eines Neubaus gezogen. Dort, über den Baumwipfeln, wohnten sie auch, als Mannerheim zu Grabe getragen wurde: Sie erinnerte sich noch gut an den Tag der Beisetzung im Jahre 1951, es war ein kalter Tag, ein ganz anderer Wintertag gewesen als der gerade vergangene, es hatte sehr viel Schnee gelegen, und wenn man ausatmete, strömte dicker, weißer Rauch aus dem Mund. Elina hatte sich nicht für die Beerdigung interessiert, stattdessen hatte sie den Karren mit Oskari durch den tiefen Schnee geschoben, und neben dem Karren war im Laufschritt ein wütender und verbissener Jouni gegangen: Sie wollten zu Heikkiläs Schneiderei, um nach Arbeit zu fragen. In jenem Winter trank Sulo schon ziemlich viel, hatte aber noch seinen Job bei Vilkki, seine Arbeitskollegen deckten ihn. Wenn der Faktor wissen wollte,
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