Geheimakte Proteus
der Mauern oder vielleicht einen Tunnel.
Der ältere Mann zögerte. Er sah ihr in die Augen, und irgendwie musste er erkannt haben, dass Lani nichts mit der Polizei zu tun hatte.
Er drehte sich zu seinem Sohn um.
»Du kannst sie zum Eingang bringen. Aber -«, er tippte dem Jüngeren gegen die Brust, um das zu unterstreichen, was er sagte – »geh nicht mit ihr in die Freizone, nur zum Eingang.« Jetzt wandte er sich wieder an Lani. »Und dann – sind Sie auf sich allein gestellt.«
Sie nickte. Dann griff sie impulsiv nach seiner Hand. Die Hand des Mannes fühlte sich rau an, von echter Arbeit geformt, wo doch fast niemand mehr etwas Echtes anfasste. »Ich danke Ihnen.«
Er lächelte nicht. »Wenn man Sie erwischt, wissen Sie nichts, und sagen Sie nichts … und was uns betrifft, so haben wir Sie noch nie gesehen.«
Sie nickte. Warum half er ihr? Gehörte er irgendeiner Untergrundbewegung im Glom an, die bemüht war, das allmächtige Flagge Glom zu schwächen?
»Kommen Sie«, sagte der Sohn zu ihr. »Wir sollten gehen. Es ist nicht weit.«
Lani ließ die Hand des älteren Mannes los und folgte ihm.
Die Freizone lag vor ihr – und Okasan und Tristan … und Trev.
17
Nach einem Zeitraum, der ihm wie eine Stunde vorkam, aber wahrscheinlich nur halb so lang war, hielt der Gleiter an. Während der ganzen Fahrt hatte niemand ein Wort zu ihm gesagt.
Das Geräusch aufklappender Türen. Und ein Geruch. Verdorbenes Essen. Müll.
»Aussteigen«, sagte die Stimme, und dann packten zwei Hände Tristans Schulter und schoben ihn aufs Pflaster hinaus. Draußen war der Gestank noch ausgeprägter. Tristan hatte seit Stunden nichts mehr gegessen – jetzt wurde ihm bei der Vorstellung, Nährstoffe in sich hineinzusaugen, beinahe übel.
Er ging – stolperte auf dem Pflaster, blieb mit den Füßen mehrmals in Schlaglöchern hängen, taumelte einige Male, wurde nur von den Händen, die ihn lenkten, davor bewahrt zu stürzen. Dann blieben sie stehen.
Tristan hörte das Scharren von Metall auf Metall. Das Geräusch von etwas Schwerem, das sich kratzend und ächzend dagegen auflehnte, bewegt zu werden. Dann ein dumpfes Dröhnen.
Ein neuer Geruch. Diesmal noch schlimmer … feucht … der Geruch von frischem Blut.
Wenn das nicht Proteus war … wenn das nicht der Mimikuntergrund war …
Tristans Bewusstsein bäumte sich gegen die Vorstellung auf, was ihn am Ende dieser Reise erwartete.
Näher zu dem Geruch. Wieder die Stimme: »Du wirst jetzt nach unten klettern, Mimik. An beiden Seiten ist ein Geländer. Lass dir Zeit. Niemand wird dich halten, hörst du?« Die Stimme rüttelte Tristan unsanft an der Schulter. »Aber einer von uns wird über dir und einer unter dir sein. Hast du verstanden?«
Beinahe hätte Tristan gesprochen.
Aber er nickte nur.
Es müsste eine Freude sein, eine von Eels Gladiatorschablonen gegen Mr. Stimme auszuprobieren, eine Chance, Mr.-Sage-kein-Wort gegenüberzutreten.
Ihn ein wenig an der Schulter rütteln. Ihn in den Hals kneifen.
Tristan bezweifelte, dass ein solcher Augenblick je kommen würde.
»Okay – hinunter mit dir … Mimik. «
Jemand nahm Tristans Fuß und setzte ihn auf die erste Leitersprosse. Dann stieg er langsam, Schritt für Schritt, in die Tiefe, bis seine Hände das Geländer ergreifen konnten.
Der feuchte, tote Geruch drang durch seine Maske.
»Wer bringt das Opfer?«, sagte die Stimme.
Tristan hörte konfuses Murmeln.
»Schau«, sagte die Stimme. »Mir ist egal, wer von euch es macht, aber jemand muss das verdammte Opfer bringen, oder dort unten wird einer von euch aufgeknüpft.«
Vielleicht wäre es doch besser gewesen, zur Rohrbahn zu gehen und dort das Risiko einer Begegnung mit der Polizei auf sich zu nehmen.
Der Abstieg in die Tiefe ging langsam vonstatten. Einmal trat jemand von oben Tristan auf den Kopf. Ein Zufall? Tristan wusste es nicht. Er spürte bloß den schweren Stiefel. Niemand entschuldigte sich.
Schließlich traf Tristans Schuh auf festen Boden.
»Das wär’s«, sagte die Stimme. »Jetzt sind wir unten. Komm.«
Er wurde nach vorn gestoßen, trat in knöcheltiefe Pfützen. Tristan spürte, wie das ölige Wasser am Stoff seines Smartsuits hängen blieb. Er stieß gegen Wände und Säulen und verschaffte Dohan Lees Körper eine hübsche Sammlung von Prellungen.
Aber er schaffte es, auf den Beinen zu bleiben, bis er über etwas stolperte und zu Boden ging. Er landete auf den Ellbogen in einer schleimigen Pfütze, deren Inhalt seine
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