Geheimbünde: Freimaurer und Illuminaten, Opus Dei und Schwarze Hand (German Edition)
und mit roten Stoffbahnen verhängten Raum finden sie unter einem Jesusbild die toten Körper von 22 Menschen. Einige sind in einer Art Priestertracht gekleidet, anderen hat man Plastiktüten über den Kopf gezogen. Wenige Stunden später schlagen Flammen aus einem Chalet im Kanton Wallis. Dort findet die Kriminalpolizei die teilweise verbrannten Leichen von 25 Menschen, darunter fünf Kinder. 14 Monate später werden die leblosen Körper von elf Erwachsenen und vier Kindern gefunden, in einem Wald 30 Kilometer südlich von Grenoble, sternförmig um ein heruntergebranntes Lagerfeuer angeordnet, das ihre beiden Mörder entfacht haben. Deren Leichen findet die Polizei in unmittelbarer Nähe des Tatortes. Im März 1997 entdeckt die kanadische Polizei fünf Tote in einem Haus in der kanadischen Provinz Quebec.
Bei allen Opfern und ihren Mördern handelt es sich um Mitglieder einer Organisation namens «Sonnentempler», einer Sekte, die zur Zeit der Massaker wenig mehr als zehn Jahre alt ist, deren Gründer aber behaupten, ihre Wurzeln seien weitaus älter. Auf von den Sonnentemplern hinterlassenen Videos verbrämen sie die Morde und Selbstmorde als kultisches Vorgehen: «Wir, treue Diener des Rosenkreuzes, erklären: So wie wir eines Tages verschwunden sind, werden wir wiederkehren (…) denn das Rosenkreuz ist unsterblich (…) Gleich ihm sind wir von jeher und auf immer.»
Mit Endzeitpredigten unter dem Motto «Der Tod existiert nicht, er ist nur eine Illusion» bereitet Joseph di Mambro, einer der Anführer der Sonnentempler, seine Anhänger jahrelang auf einen kollektiven Todestrip vor. Di Mambro ist bis 1968 Mitglied des weltweit größten Rosenkreuzer-Bundes A.M.O.R.C. («Ancient and Mystical Order Rosæ Crucis», «Alter Mystischer Orden vom Rosenkreuz»).
Stellt di Mambros Sonnentempler-Sekte nur einen bösartigen Auswuchs einer ansonsten harmlosen okkulten Bewegung dar? Oder ist das Ende der Sonnentempler das brutale Symbol für eine im Laufe der Jahrhunderte mehr und mehr ad absurdum geführte christliche Utopie? Fest steht: Die blutigen Ereignisse werfen ein grelles Licht auf die esoterische Szene, die sich seit Anfang des 20. Jahrhunderts in den USA und Europa gebildet hat, in der sich etliche auf die Tradition der Rosenkreuzer berufen. Die Sonnentempler erscheinen wie ein Zerrbild dieser okkulten Gemeinschaften.
Heim ins Reich der Sterne
«In unseren Reihen, Bruder, wirst Du haben, alles was Dich zeitig und ewig beglücken kann. Dir gehört die folgsame Natur ohne Zwang, Sie leiht Dir ihre Kräfte, Du hast Kenntnis der Macht und Erlaubnis dasdurch den Fluch der Sünde inwärts gekehrte Licht wieder heraus zu wenden, alle Gerinnung hinweg zu nehmen, Körper von ihren harten Schlacken zu befreien, Helle zu machen und auf den Höhepunkt der Vollkommenheit zu bringen», heißt es in einer Schrift der Gold- und Rosenkreuzer des 18. Jahrhunderts. An diesen Versprechen hat sich seitdem nicht viel geändert. Die Existenz der Neo-Rosenkreuzer basiert auf dem, was schon die Gold- und Rosenkreuzer im 18. Jahrhundert zur Blüte führt: auf dem Unbehagen der Menschen, die in der Säkularisierung der Welt eine «Verödung des Lebenswunders» sehen. Sie wünschen sich eine spirituelle Rückbesinnung auf die voraufklärerische Welt, in der Religion und Wissenschaft angeblich noch eine Einheit sind.
Die heutige Szene der Neo-Rosenkreuzer lässt sich in einen spirituellen und einen initiatorischen Zweig aufteilen. Dem ersteren nach ist Christian Rosencreutz ein spirituelles Wesen, das Einfluss auf die Geschicke der Menschheit nimmt. Das Rosenkreuzertum hat für Anthroposophen das Potenzial einer alle Glaubensrichtungen umfassenden Weltreligion. Wie das Rosenkreuzerische helfen soll, den Einweihungsweg zu gehen, muss sich jedoch jeder individuell erarbeiten. Ganz anders geht der initiatorische Zweig unter den Neo-Rosenkreuzern vor, der in seiner Geschichte eine Vielzahl von Bünden hervorgebracht hat. Den allermeisten kann man Harmlosigkeit attestieren. Wer einen Guru sucht, ist bei ihnen fehl am Platz. Stattdessen wird versucht, dem Interessierten eine spirituelle Weltsicht zu vermitteln, die mit einem Studium magischen Schrifttums und einer vielschichtigen Symbolwelt verbunden ist. Diese ist keineswegs geheim, sondern schon 1785 in Altona unter dem Titel «Die geheimen Figuren der Rosenkreuzer» veröffentlicht worden.
Die Intensität des rosenkreuzerischen Studiums ist jedem selbst überlassen. Flankiert wird
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