Geheime Macht
identifizieren. Ich kannte die Theorie der Analyse von Fingerabdrücken und hatte in der Akademie des Ordens die praktischen Grundlagen mitbekommen, aber im Ernstfall sah ich nur wirre Linien, die für mich überhaupt keinen Sinn ergaben. Ich schrieb auch einen kurzen vorläufigen Bericht für Jim und bat um Einsicht in die Personalakten von Raphaels sämtlichen Mitarbeitern. Dann schickte ich den ganzen Kram mit dem Leichenteam zur Festung.
Danach trat ich in den Tresorraum und blieb eine Weile stehen, während ich den Inhalt visuell inspizierte. Der Raum war voller Antiquitäten. Ein Pärchen eleganter pechschwarzer Katzen mit langen Hälsen und Augen, die offenbar aus echten Smaragden gemacht waren, stand vor der Wand. Links von den Katzen lag eine Steintafel auf dem Boden, die so groß war wie ich. Sie war mit Gestalten in Gewändern graviert und vom Zahn der Zeit verwittert. Rechts davon stand ein kleiner Holzstuhl, der vergoldet und braun bemalt war und dessen Beine wie Löwentatzen gestaltet waren.
Auf dem Regal bemerkte ich eine kunstvoll gearbeitete Goldkette auf einem roten Samtkissen in einem Glaskasten, eine Sammlung kleiner Flaschen aus Kristallglas, das mit goldenen Bändern umwickelt war, ein leeres Holzschränkchen, einen großen Brocken aus Meerschaumkristall auf schwarzem Samt und mit einer gravierten Szene, die drei Männer auf einer Seite und eine Frau auf der anderen zeigte, die sich zum Abschied zuwinkten. Oder vielleicht Hallo sagten.
Nein, wahrscheinlich ein Abschied. Wie fast immer im Leben.
Alle Gegenstände verströmten die Aura hohen Alters, wie eine Blume, die ihren Duft verbreitete. Wie viele Menschen waren wegen dieser Dinge gestorben? Ich wusste von mindestens vier, und ich hatte das Gefühl, dass die Opferzahl noch weiter steigen würde.
Ich rief Stefan herein und machte eine Inventur des Tresors. Er sollte alles als Zeuge unterschreiben. Die Liste war so lang, dass mein Kugelschreiber am Ende den Geist aufgab. Irgendetwas musste aus dem Tresorraum entwendet worden sein, aber was? Ich untersuchte jeden Quadratzentimeter auf Indizien, dass irgendwo etwas fehlte, aber die Kammer war völlig staubfrei. Kein geheimnisvoller Umriss, kein leerer Haken, nichts, das mir irgendeinen Hinweis gab, was man mitgenommen haben könnte. Wie es aussah, konnten die Einbrecher genauso gut etwas hineingebracht haben. Das wäre echt ein Hammer.
Als ich endlich aus dem Tunnel hervorkam, völlig verdreckt und todmüde, war die Sonne schon fast hinter dem Horizont verschwunden. Spurensicherung war ein langwieriger und ermüdender Job. Beim nächsten Mal würde ich mir jemanden suchen, der mich als Sklave begleitete.
Stefan erhob sich von der Stahltonne, auf die er sich gesetzt hatte. »Fertig?«
»Ja. Gibt’s was Neues von Raphael?«
»Nein.«
Entweder hielt die Polizei ihn weiterhin fest, oder er ging mir bewusst aus dem Weg.
»Stefan, das Zeug im Tresor ist sehr alt. Wir können nicht feststellen, ob etwas davon magisch ist oder nicht. Ihr müsst euch davon fernhalten. Berührt es nicht, beschnuppert es nicht, versucht nicht, irgendetwas wegzuschaffen. Ich werde jemanden mit magischer Expertise aus der Festung kommen lassen. Man wird die Sachen abtransportieren und unter Quarantäne stellen.«
Stefan sah mich blinzelnd an. »Ich habe verstanden, was du sagst, aber du wirst mit Raphael darüber reden müssen. Er kommt sicher hierher, nachdem die Polizei ihn freigelassen hat. Willst du ihm eine Nachricht hinterlassen?«
Gute Idee. »Hast du etwas, womit ich schreiben kann?« Ich schüttelte meinen leeren Stift. »Meiner hat den Geist aufgegeben.«
»Klar. Im Zelt.«
Ich warf einen Blick zu dem nur wenige Meter entfernten Arbeitszelt. »Danke.«
Ich ging zum Zelt, schob die Eingangsklappe zur Seite und trat hinein.
Es roch nach Raphael.
Sein Geruch erfüllte den gesamten Innenraum, von den Zeltwänden bis zum Klapptisch und den Papieren, die ordentlich darauf gestapelt waren. Jeder Gegenstand pulsierte davon, rief mich, sang: »Raphael … Raphael … Partner …« Der Geruch umhüllte mich, warm und vertraut, und jede Faser meines Seins schrie vor Verzweiflung. Ich wankte nach draußen und wäre fast über einen Stein gestolpert.
»Alles in Ordnung?«, rief Stefan.
»Ja.« Ich musste von hier verschwinden. Ich drehte mich um und stapfte davon.
»Was ist mit der Nachricht?«, fragte Stefan.
»Ich werde eine auf seinem Telefon hinterlassen.«
Ich lief weiter und versuchte, möglichst
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