Geheime Macht
wäre zu viel. Ich legte ein wenig Mascara auf und stylte mein blondes Haar, das sich alle Mühe gab, aus der Kurzfrisur herauszuwachsen. Nachdem ich aus dem Orden geflogen war, hatte ich die Spitzen meiner Haare blau »gefrostet«, doch nun war die Farbe ausgebleicht, stattdessen hatte ich nun einen Kopf voller Strähnchen.
Ich peppte mich auf und zitterte vor Nervosität wie ein Mädchen vor dem Abschlussball. Ich verschränkte die Arme und musterte mein Spiegelbild. Ich war eine knallharte Scharfschützin, die eiskalt tötete. Ja, das war schon besser.
Raphael hatte von Anfang an etwas Seltsames aus mir herausgelockt. Meine wilde Seite, die sich aus puren Emotionen zusammensetzte. Diese wilde Andrea liebte ihn bedingungslos und tat irrationale Sachen, zum Beispiel neben dem Telefon sitzen, während ihr Herz viel zu schnell schlug, um darauf zu warten, dass er anrief, oder sich kopfüber in große Gefahren zu begeben, um an seiner Seite kämpfen zu können. Diese wilde Andrea wurde einmal verhaftet. Wir waren für einen romantischen Urlaub weggefahren, und während ich den Pool im Hof des Hotels verlassen hatte, um eine Toilette aufzusuchen, hatte sich irgendein Flittchen an Raphael gehängt und sich nicht abwimmeln lassen. Als ich zurückkehrte, trat sie nicht etwa einen schnellen Rückzug an, sondern schlug vor, dass wir alle miteinander Spaß haben sollten. Ich hatte sie ein paarmal unter Wasser getaucht. Bedauerlicherweise richtete ich gleichzeitig eine Waffe auf einen Wachmann des Hotels, und kurz darauf traten die Hilfssheriffs in Erscheinung. Raphael hatte es einfach nur genossen. Schließlich benahm ich mich wie ein Gestaltwandler in einer Partnerschaft: irrational, besitzergreifend und bis über beide Ohren verliebt.
Ich wusste nicht, ob diese Seite von mir mein Hyänenanteil war oder nur das kompromisslose fünfzehnjährige Mädchen, das in jeder Frau lebt, nur dass jetzt ein schlechter Zeitpunkt war, um es herauszulassen. Ich musste vernünftig bleiben, damit ich mich entschuldigen und versuchen konnte, die Sache zwischen Raphael und mir wieder in Ordnung zu bringen.
Cutting Edge befand sich in einem robusten Gebäude am Nordrand von Atlanta, etwa eine Stunde von der Festung entfernt. Der Herr der Bestien, auch als Kates Hasimausi bekannt, hatte das Haus ausgesucht und sich für eine Stelle entschieden, die noch innerhalb der Stadtgrenzen lag, aber der Festung so nahe wie möglich war. Curran mochte es nicht, ohne Kate zu sein, und Kate mochte es nicht, ohne Curran zu sein.
Die Tür war unverschlossen. Großartig! Ich trat ein.
Ascanio blickte von seinem Besen auf.
Obwohl Cutting Edge nur sehr wenige Klienten hatte, arbeiteten übermäßig viele Angestellte für die Firma, was zum Teil daran lag, dass Kate immer wieder neue Leute einstellte. Sie betrachtete Ascanio Ferara als Praktikanten. Aber niemand, der noch über einen Funken Verstand verfügte, würde ihn als Praktikanten oder in irgendeiner anderen Funktion arbeiten lassen, außer vielleicht als Verkehrsstauverursacher. Wenn man ihn an irgendeine Straßenecke stellte, würde früher oder später eine Fahrerin einen Unfall bauen.
Ascanio war ein Fünfzehnjähriger, der als dreißig durchging. Er hatte glänzendes schwarzes Haar und grüne Augen und war ein schöner Mann. Nicht einfach nur hübsch, nicht einfach nur attraktiv, sondern schön. Und er entsprach dem Klischee vom gefallenen Engel, denn hinter dem unschuldigen Gesicht und den hübschen Augen lauerte ein verschlagener, durchtriebener Geist.
Wie die meisten Kinder des Bouda-Clans wurde er umsorgt und verhätschelt, umso mehr, weil er die meiste Zeit seines Lebens verloren gewesen war und seine Mutter ihn erst vor wenigen Monaten wiedergefunden hatte. Während dieses kurzen Zeitraums hatte er jeden möglichen Unsinn angestellt, bis die Sache kulminierte und er wegen eines flotten Dreiers in der Öffentlichkeit verhaftet worden war. Der Junge verstand nicht, wie das Rudel funktionierte, und schließlich hatte Tante B ihn auf Kate abgewälzt. Andernfalls hätte man ihn töten müssen. Kates Lösung bestand darin, dieses Bündel aus Problemen und zu vielen Hormonen zu unserem Praktikanten zu machen. Ich würde nie verstehen, was in ihrem Kopf vor sich ging. Sie war mir ein Rätsel.
Ascanio richtete sich auf und salutierte, wobei er den Besen wie ein Gewehr hielt.
Ich zeigte auf den Besen. »Nein.«
»Warum nicht?«
Weil jeder militärische Ausbilder, den ich erlebt hatte, deswegen
Weitere Kostenlose Bücher