Geheime Macht
viel Abstand zu diesem verfluchten Zelt zu gewinnen. Hätte mir jemand den Weg versperrt, hätte ich ihn möglicherweise erschossen.
*
Ich legte einen Zwischenstopp im Büro von Cutting Edge ein. Es war verschlossen, Kate war nicht da. Ich legte die gesicherten Beweismittel in den Bürotresor und fuhr nach Hause. Ich stieg die Treppe hinauf, die nun frei von dem Geflecht, aber mit schwarzem Ruß von den Flammenwerfern der PAD überzogen war, und klopfte an die Tür der Haffeys. Niemand antwortete. Ich hoffte, dass Mr Haffey es überstanden hatte.
Ich ging weiter zu meiner Wohnung, trat ein und lehnte mich gegen die Tür. Ich befürchtete, die Außenwelt könnte irgendwie hindurchbrechen und mich überwältigen.
In der Wohnung war es dunkel und leer. Sie war meine kleine Zuflucht, vor allem während der drei Wochen, als ich mich hier verkrochen hatte, um zu verarbeiten, dass der Orden mich rausgeworfen hatte. Sie war meine sichere kleine Gefängniszelle, nur für mich ganz allein. Und für Grendel. Der Pudel war zwar ein guter Zuhörer, aber letztlich konnte er bei einer Konversation nicht richtig mithalten.
Jetzt kam mir meine Wohnung nicht mehr sicher vor. Sie fühlte sich erstickend und karg an.
Kein Raphael. Ich erinnerte mich, wie es sich angefühlt hatte, morgens aufzuwachen und festzustellen, dass er mich in den Armen hielt. Wenn ich die Augen schloss, konnte ich sein Lachen hören. Er hatte mich so glücklich gemacht, aber das Wichtigste war, dass ich ihn glücklich gemacht hatte. Trotz meiner Fehler und Schwächen hatte ich gewusst, dass ich ihm das Leben versüßen konnte. Mir war gar nicht klar gewesen, wie viel Freude es mir bereitet hatte. Obwohl ich dazu gar nichts tun musste. Ich musste mich nur auf der Couch an ihn kuscheln, während er seine Geschäftsberichte durchsah, und schon hellte sich seine Miene auf.
Und nun war er fort.
Das war scheiße. Das war richtig scheiße.
»Das ist scheiße«, sagte ich, und meine Stimme klang in dem stillen Zimmer erschreckend laut. Ich wusste genau, was ich tun musste. Ich musste nur zum Telefon gehen, ihn anrufen und ihm sagen, wie es mir ging. Ich hätte es schon vor Wochen tun sollen, aber wenn ich die Hand auf das Telefon legte, kam mir der Hörer so schwer wie ein Berg vor.
Unser junges Glück endete mit einem einzigen Streit, an dem wir beide Schuld hatten. Als Erra sich in Atlanta austobte, hatten Kate und ich nur knapp einen schweren Kampf mit einer ihrer Schöpfungen überlebt. Anschließend war das Büro des Ordens halb verbrannt und halb überflutet, alle Fenster waren eingeschlagen, und die Wände rauchten noch. In diesem Moment kam ein Notruf vom Wolf-Clan herein. Sie wurden von Erra angegriffen, und es gab immer mehr Tote. Kate und ich wollten helfen. Doch Ted, der Verteidiger der Ritter, pfiff uns zurück, weil er uns im Orden brauchte.
Kate riss sich ihren Ordensausweis herunter und ging. Ich nicht. Ich war eine Ritterin. Ich hatte einen Eid abgelegt, und es stand mir nicht zu, mir auszusuchen, welche Befehle ich befolgen wollte.
Raphael nahm es persönlich. In seinen Augen hatte ich mich von den Gestaltwandlern, vom Rudel abgewendet, und damit auch von ihm. Er war der Prinz der Boudas von Atlanta, der geliebte und bewunderte Lieblingssohn, und er wurde von allen unterstützt. Für ihn war es das Normalste der Welt, ein Gestaltwandler zu sein.
Für mich bedeutete es, verletzt und degradiert zu werden und in Furcht zu leben. Bevor ich zehn Jahre alt geworden war, hatten Gestaltwandler mir jeden Knochen meines Körpers gebrochen. Man hatte mich geprügelt, geschnitten, getreten, ausgepeitscht und in Brand gesteckt. Ich hatte mit ansehen müssen, wie meine Mutter mit grausamer Schadenfreude immer wieder geschlagen worden war, bis sie sich in eine blutige Masse verwandelt hatte. Ich hatte mich von diesem Leben abgewendet und mich stattdessen für den Orden entschieden. Die Ritter waren mein Rudel, und Ted war mein Alpha.
Raphael wusste das alles, zumindest das meiste. Ich hatte ihm von meiner Kindheit erzählt. Aber er sah es so, dass ich all diese Grausamkeiten durch »böse« Gestaltwandler erlitten hatte. Das Atlanta-Rudel dagegen bestand aus »guten« Gestaltwandlern, unter ihnen hier gab es Gesetze, Disziplin und Sicherheit. Er glaubte, sie hätten meine Loyalität mehr als alle anderen verdient, aus dem einfachen Grund, weil uns allen gelegentlich ein Fell wuchs. Er hatte erwartet, dass ich allem den Rücken zukehrte, wofür ich so
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