Geheime Macht
Auge, das durch dreißig Jahre Modeerfahrung geschärft worden war. »Wozu brauchst du das Kleid?«
»Für eine förmliche Geburtstagsparty im Haus eines Millionärs.« Und ich musste hinreichend vorzeigbar sein, damit man mir dort Einlass gewährte.
»Wer begleitet dich?«
»Mein Exfreund.«
Deasia zog die Augenbrauen hoch. »Aha. Das Mysterium ist gelöst. Hat er dich verlassen?«
»Ja.«
»Und du möchtest Eindruck schinden?«
»Ich will ihn vom Hocker hauen. Er soll sehen, dass ich allein wunderbar klarkomme. Ich will strahlen.«
»Willst du strahlen oder schockieren?«, fragte Deasia.
»Dann lieber schockieren.«
»Warte einen Moment.«
Sie verschwand zwischen den Kleiderständern. Ich betrachtete noch einmal meinen letzten Versuch. Ein violettes, hochtailliertes Stück hätte mir eigentlich schmeicheln sollen, tat es aber nicht. Auch mein Gesicht hatte sich verändert. Früher konnte ich einen auf kess oder sogar süß machen. Doch die Frau, die mich jetzt aus dem Spiegel betrachtete, sah nur in einem Staubmantel und mit zwei Pistolen gut aus. Mich in hübschen Stoff zu drapieren war so, als würde man versuchen, eine Rasierklinge mit buntem Zuckerguss zu verschönern.
Deasia tauchte wieder auf und hielt einen Bügel mit etwas aus schwarzer Spitze in der Hand.
»Das sieht hübsch aus, aber Schwarz steht mir überhaupt nicht«, sagte ich. »Das macht mich noch blasser.«
Deasia starrte mich an wie ein ausgehungerter Straßenhund. »Probier es an.«
Ich ging mit dem Kleid zur Umkleidekabine. Ich zog die violette Monstrosität aus und nahm das schwarze Ding vom Bügel. Schwarze Spitze über schwarzem Stoff. Nicht mein Ding. Ich streifte das Kleid über, trat nach draußen und blickte in den körpergroßen Spiegel.Das schwarze Kleid umschloss mich wie ein Handschuh und endete fünf Zentimeter über meinen Knien. Unterhalb der Taille war es schwarz und blickdicht, und von dort zog es sich asymmetrisch über den Brustkorb zur linken Schulter hinauf. Die linke Hälfte war mit einem winzigen Kragen ausgestattet, aber die rechte Schulter war schockierend nackt. Die lange gewundene Gestalt eines chinesischen Drachen war in den schwarzen Stoff eingearbeitet. Der Kopf lag auf der linken Seite meines Oberkörpers, und der lang gezogene Körper schlängelte sich zwischen meinen Brüsten hindurch, wo der Stoff gerade so eng geschnitten war, dass die Sache nicht unanständig wurde. Schließlich endete der Drache auf meinem rechten Oberschenkel. Der schwarze Spitzenstoff legte sich über den Umriss des Drachen, und das Muster sollte seine Schuppen darstellen, während es einen aufreizenden Blick auf meine bloße Haut ermöglichte. Ein roter Stein markierte das Auge des Drachen, und als ich mich drehte, strahlte er im rubinroten Schein von Bouda-Augen.
Schwarz war nie meine Farbe gewesen, aber heute war sie es.
Deasia stellte mir ein Paar schwarzer Pumps hin. Ich stieg hinein und war schlagartig zehn Zentimeter größer.
Heiliger Strohsack! Ich sah unglaublich gefährlich aus. »Das ist ein böses Kleid.«
»Das Böse kann sehr schön aussehen«, sagte Deasia. »Übertreib es nicht mit den Accessoires. Ein Paar Ohrringe, aber nicht zu groß, und vielleicht noch einen Armreif. Mehr nicht. Ach ja, dieses Kleid schreit nach einem roten Mund, Andrea. Einem knallroten Mund.«
»Ich nehme es.«
»Natürlich nimmst du es. Hau ihn vom Hocker.«
Raphael würden die Augen aus dem Kopf fallen. Genauso wie Anapa. Und falls es irgendwelche Beweise für eine Verbindung zwischen Anapa und dem Tod der Gestaltwandler gab, würde ich mir alle Mühe geben, sie zu finden.
*
Als ich das Büro von Cutting Edge betrat, saß ein Mann in einem der zwei Gästestühle. Er hatte sich vornüber gebeugt, machte irgendwas mit seinen Füßen, und als er mich hörte und sich umdrehte, sah ich einen Autokindersitz. Darin lag ein Baby, ein kleiner Klecks aus Weiß und Rosa vor dem grünen Stoff, der mit niedlichen Dinosauriern gemustert war. Das Gesicht des Mannes kam mir bekannt vor. Ich brauchte eine Sekunde, bis ich es einordnen konnte. Nick Moreau.
Als wir uns im Juni das letzte Mal begegnet waren, hatte er zehn Jahre jünger ausgesehen. Der Mann, der jetzt vor mir saß, wirkte alt und müde, und seine Augen waren ohne Leben, als hätte sich eine Ascheschicht darübergelegt.
»Ich habe ihm gesagt, dass du unterwegs bist«, erklärte Ascanio von der Tür zum Lagerraum. »Er meinte, es würde ihm nichts ausmachen zu warten.«
Ich
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