Geheime Macht
hatte seit elf Monaten keine neuen Leute mehr eingestellt, lange bevor das Heron-Gebäude zum Verkauf angeboten worden war.
Unter den vierzehn Personen, die er derzeit beschäftigte, gab es drei Paare, bei denen jeweils der Mann und die Frau für Medrano Reclamations arbeiteten. Drei weitere Personen hatten andere Partner, zwei waren Kinder von Mitarbeitern, und die übrigen drei Gestaltwandler waren schon seit vielen Jahren für Raphael tätig. Sie alle führten ein ruhiges Leben – sie arbeiteten, sie kamen nach Haus und verbrachten ihre Freizeit mit ihren Kindern.
Jims Nachforschungen hatten keinerlei Ungewöhnlichkeiten in den Biografien ergeben. Allerdings bot eine solche Umgebung keine guten Voraussetzungen für geheime Sünden. Keiner von ihnen war spielsüchtig. Niemand hatte sich Geld aus anrüchigen Quellen geborgt. Im Leben dieser Leute schien es keinen Platz für Erpressung, Mord oder heiße Affären zu geben. Und falls sie doch irgendwelche Affären gehabt hatten, wären ihre Bouda-Partner ihre größte Sorge gewesen. Boudas waren sehr wild, bis sie sich paarten, doch unmittelbar nach der Paarung wurden sie besitzergreifend und verteidigten eifersüchtig ihr Territorium. Und jeder Skandal wurde sofort allgemein bekannt. Wir liebten Dramatik.
Ich rief eine Freundin bei der MSDU an. Während meiner Zeit im Orden hatte Ted mich ein paarmal ans Militär ausgeborgt, und ich hatte mir dort genügend Respekt erarbeitet, um einige der Leute gelegentlich um einen Gefallen bitten zu können. Lena, meine Kontaktperson bei der MSDU , schaute für mich im Strafregister nach, doch zu Anapa gab es keinerlei Einträge. Er und seine Firma waren entweder furchtbar gesetzestreu, oder er war sehr gut darin, seine Schandtaten zu vertuschen.
Schließlich blickte ich auf und sah Ascanio an. »Hol deine Ausrüstung.«
Er steckte sein Messer ein. »Wohin gehen wir?«
»Zur Bibliothek.«
Sein Enthusiasmus sackte in sich zusammen, und er stieß einen tragischen Seufzer aus. »Aber ›Bibliothek‹ und ›aufregend‹ sind zwei Begriffe, die nicht zusammenpassen.«
»So läuft es nun mal in diesem Job. Fünf Prozent unserer Zeit verbringen wir damit, Monster zu töten. Die übrige Zeit wühlen wir im Dreck, um nach einem winzigen Schamhaar des Übeltäters zu suchen.«
»Bäh.«
Ich kämpfte an zwei Fronten. Die eine war ein fünfzehnjähriger Junge mit dem Körper eines Monstrums und einem gewaltigen Hormonüberschuss. Er suchte verzweifelt nach Gelegenheiten, etwas Dampf abzulassen. Die andere war die Tatsache, dass er ein Bouda war. Wir langweilten uns sehr schnell. In der Natur verließen sich Hyänen mehr auf ihr Sehvermögen als ihre Nase, wenn sie auf der Jagd waren. Wir waren keine hartnäckigen Verfolger wie die Wölfe, wir waren nicht als Gruppe unterwegs, und wir waren keine Spurenleser. Einer Spur aus Brotkrümeln zu folgen widersprach Ascanios natürlichem Instinkt. Aber wie ich ihm schon einmal erklärt hatte, musste sein menschlicher Anteil das Steuer übernehmen. Ich würde die Oberhand behalten.
»Du kannst gerne hier bleiben und weiter mit dem Besen üben.«
»Nein, danke«, sagte er und zeigte ein strahlendes Lächeln. Der Junge war ein Phänomen. »Darf ich fahren?«
»Ja, du darfst.« Ich musste ihm irgendeinen Trostpreis anbieten.
Wir verschlossen das Büro und machten uns auf den Weg.
»Und was wollen wir in der Bibliothek?«
Ich lehnte mich auf dem Sitz zurück. »Fahr nicht über die Magnolia. Nimm die Redberry.«
»Warum?«
»An den Gebäuden der Redberry wächst irgendeine seltsame gelbe Rebe. Ich will sie mir etwas genauer ansehen. Und um deine Frage zu beantworten: Wir gehen in die Bibliothek, weil es der einzige öffentlich zugängliche Ort ist, an dem wir Zugriff auf das Projekt Bibliothek von Alexandria haben.«
»Was ist das?«
»Vor Jahren – noch vor deiner Geburt – konnten die Leute auf ein Datennetzwerk zugreifen, das als Internet bezeichnet wurde. Wenn man zum Beispiel eine Adresse brauchte, tippte man einfach den Namen in den Computer, und im nächsten Moment hatte man sie auf dem Bildschirm, mitsamt Wegbeschreibung. Man konnte auch ganz andere Sachen wie den Siedepunkt von Salzsäure nachschlagen. Das Wissen war nur einen Tastendruck entfernt.«
»Wow!«
»Ja. Aber als klar wurde, dass die Magie die Computernetzwerke zerstörte, versuchten einige Leute, Teile des Internets zu retten. Sie machten Schnappschüsse von ihren Servern und schickten die Daten an eine
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