Geheime Macht
zentrale Datenbank in der Kongressbibliothek. Dieses Projekt erhielt den Namen Bibliothek von Alexandria, weil es im antiken Alexandria eine Bibliothek gab, die angeblich das gesamte Wissen der Menschheit enthielt, bis irgendein Idiot das Ganze abfackelte. Da im Moment die Technik die Oberhand hat, können wir diese Datenbank benutzen.«
»Und wonach suchen wir?«
»Nach Fakten. Schauen wir uns mal an, was wir haben. Zuerst kauft Raphael ein äußerst begehrtes Gebäude und wirft alle anderen Bieter aus dem Rennen. Dann finden Raphaels Arbeiter einen geheimen Tresorraum, der auf keinem der offiziellen Pläne verzeichnet ist. Irgendwer machte sich auf den Weg zum Gebäude, tötete die Gestaltwandler, die es bewachten, und öffnete den Tresor. Dann verließen die Unbekannten die Grabungsstelle und ließen den Inhalt des Tresorraums größtenteils unberührt. Was schließt du daraus?«
Ascanio runzelte die Stirn. »Es war kein Zufall.«
»Richtig. Es gibt Gebäude, die sich viel leichter ausrauben lassen, und ein bewachter Tunnel ist etwas anderes als eine Bank. Die Sache macht nicht unbedingt den Eindruck, dass dort etwas Kostbares verborgen sein könnte. Und ein normaler Räuber hätte den Tresor ausgeräumt.«
Ascanio sah mich an. »Also wusste der Dieb vom Tresor und was sich darin befand.«
Es gab noch Hoffnung für den Jungen. »Genau. Wir haben zwei Ansätze für unsere Ermittlungen. Erstens wollen wir herausfinden, wer vom Tresorraum wusste und sich Zugang verschaffen konnte. Und zweitens?«
»Wollen wir herausfinden, worauf diese Leute es abgesehen haben«, sagte Ascanio.
Ich sah ihn lächelnd an. »Gut. Wir wissen, dass Jamar Groves der Besitzer des Gebäudes war. Wenn das Blue Heron eine geheime Gruft hatte, musste Jamar davon wissen, weil er derjenige war, der sie dort hat einbauen lassen. Wir wissen, dass Jamar Kunstwerke und Antiquitäten gesammelt hat. Also können wir davon ausgehen, das Jamar seine Privatsammlung im Tresor untergebracht hat. Außerdem habe ich eine Inventarliste vom Inhalt der Kammer angefertigt. Wir werden die Datenbanken nach Hinweisen auf Jamars Sammlung durchsuchen und sie mit den Gegenständen auf meiner Liste vergleichen.«
Ascanio verzog sein hübsches Gesicht zu einem gequälten Ausdruck.
»Die Zentralbibliothek befindet sich am Rand des Centennial Park«, erklärte ich. Im Laufe der Jahre hatte sich der Park explosionsartig vergrößert und weitere Stadtviertel vereinnahmt. Auch die Bibliothek war ein Opfer des Parks.
»Und?«, fragte Ascanio.
»Der Centennial Park ist im Besitz der Hexenzirkel. Sie schützen die Bibliothek, weil sie ein bedeutendes Wissensarchiv darstellt.«
Ascanio erwachte wieder zum Leben. »Weibliche Hexen?«
»Die meisten von ihnen. Wenn du gute Arbeit leistest, lasse ich dich ein bisschen flirten.«
Der jugendliche Bouda grinste breit.
»Mach dir keine allzu großen Hoffnungen«, sagte ich zu ihm. »Die Hexenmädchen sind ziemlich pragmatisch.«
*
Seit der Wende, seit dem Beginn der langsamen und weiterhin anhaltenden Apokalypse, hatten die Pflanzen beschlossen, dass es an der Zeit war, einen gnadenlosen Angriff auf alles Menschliche zu starten. Die Magie beschleunigte das Wachstum der Bäume, und der Centennial Park war dafür ein glänzendes Beispiel. Während des Jahrzehnts nach der Wende hatte der Park seine Fläche verdreifacht und benachbarte Häuserblocks übernommen. Nachdem die Hexenzirkel von Atlanta den Park von der Stadt gekauft hatten, um ihn als Treffpunkt zu nutzen, breitete er sich nicht mehr seitwärts aus, sondern wuchs nur noch nach oben. Als wir uns näherten, wurden wir von einer dichten grünen Wand begrüßt. Die Baumstämme waren durch dornige Ranken verbunden, als wäre ein dreihundert Jahre alter Wald plötzlich mitten in die Stadt verpflanzt worden.
Das quadratische braune Gebäude der Zentralbibliothek stand zurückgesetzt im Grün. Es wurde auf beiden Seiten von zwei riesigen Eschen umschlossen, deren Äste und Wurzeln sich miteinander verflochten hatten. Sie schoben sich über die Wände und manchmal sogar hinein, als wäre die Bibliothek ein eigentümlicher Pilz, der an ihren Stämmen wuchs. Die Bäume schützten die Bibliothek, während alle benachbarten Gebäude längst eingestürzt und zerfallen waren.
Wir fuhren auf einen großen Parkplatz, der früher die Forsyth Street gewesen war, und liefen zum Eingang. Drinnen trat uns ein dunkelhaariges, höchstens fünfzehnjähriges Mädchen entgegen. Sie
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