Geheime Macht
hielt einen Stab in der Hand und trug Jeans und ein mit Rüschen besetztes weißes T-Shirt. Die linke Seite ihres Gesichts war mit einem Tattoo aus geheimnisvollen Symbolen verziert, die sich von ihrer Stirn bis zum Wangenknochen hinunterzogen.
»Bitte gebt eure Waffen ab!«, piepste sie mit heller Stimme und deutete mit einem Nicken auf den Wagen voller Plastikkästen.
Ascanios Augen strahlten.
Ich zog meine SIG Sauer und legte sie in einen Kasten. Dann folgten zwei Messer, meine Wolfswurz und ein Fläschchen mit Silberpulver.
»Vielen Dank!«, sagte die Hexe und sah Ascanio an.
Der Junge reichte ihr mit einem charmanten Lächeln sein Messer. »Hallo! Wie heißt du?«
»Ich heiße ›Bitte leg das Messer in den Kasten‹!«
Ascanio legte das Messer in den Kasten und folgte mir.
»Schon aufgegeben?«, fragte ich.
»Sie ist nicht interessiert«, sagte er. »Süß, aber nicht interessiert.«
Das war etwas, das man den Boudas von Atlanta wirklich zugutehalten musste: Die Männer verstanden sehr genau den Unterschied zwischen einem Nein und einem Vielleicht.
Wir näherten uns einem schweren Schreibtisch, hinter dem eine Bibliothekarin saß. Sie sah mich lächelnd an. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Wir möchten Zugang zur Bibliothek von Alexandria.«
»Sind Sie Mitglied?«
»Nein, aber ich möchte es gern werden.«
»Andrea?«, fragte eine vertraute männliche Stimme.
Ich drehte mich um. Ein großer, breitschultriger Mann stand auf der rechten Seite vor den Regalen mit den Nachschlagewerken und sah mich an. Er trug ein schwarzes Gewand mit silbernen Stickereien am Saum und an den Ärmeln, das er mit einem Ledergürtel um die schmalen Hüften zusammengeschnürt hatte. Sein pechschwarzes Haar war an den Seiten des Kopfes geschoren, sodass es wie eine Pferdemähne wirkte. Seine Züge waren ausgeprägt und grob geschnitten. Er hatte eine große Adlernase, ein eckiges Kinn, vorstehende Wangenknochen und einen vollen Mund, der entweder sinnlich oder grausam sein konnte.
Seine Augenbrauen waren schwarz, seine Augen, in denen Humor funkelte, waren ebenfalls schwarz. Er schien diese Farbe wirklich zu mögen, was verständlich war, weil er ein Wolchw war, so etwas wie ein russischer Druide, und er verehrte Tschernobog, einen slawischen Gott, der für »alles Gute und Böse« zuständig war, wie Kate es einmal formuliert hatte. Wenn man in einer Enzyklopädie unter »Hexenmeister« nachschlug, konnte man sich ein Bild von ihm machen. Nur dass diese Gestalt auf einem Haufen aus Schädeln stand und einen Stab hielt, aus dem magisches Feuer hervorschoss.
»Hallo, Roman.«
Der Wolchw stellte das Buch zurück, in dem er geblättert hatte, und kam zu uns herüber. Ich musste zugeben, dass das Gewand, das Haar und seine Körpergröße ein recht bedrohliches Gesamtbild ergaben. Er lächelte und zeigte uns gleichmäßige weiße Zähne. »Du erinnerst dich an meinen Namen.«
Er hatte die vielleicht beste männliche Stimme, die ich je gehört hatte. Volltönend und einen Hauch suggestiv. Aber vielleicht interpretierte ich auch viel zu viel hinein. Als ich ihn das erste Mal gesehen hatte, befand er sich in einem Loup-Käfig in unserem Büro, weil er Kate angegriffen hatte, was ihr gar nicht gefallen hatte. Er hatte ein paar Dinge zu mir gesagt, die man als Flirtversuch deuten konnte. Zumindest auf dunkle, hexenmäßige Art.
Außerdem erinnerte ich mich, dass er einen russischen Akzent hatte. Keinen ausgeprägten, aber nun sprach er, als wäre er in Atlanta geboren und aufgewachsen. Vielleicht war er das sogar.
»Immer noch das gleiche Outfit, wie ich sehe. Wechselst du niemals die Kleidung?«
»Nur zu Hause«, sagte er. »Ich muss mein Image aufrechterhalten, ›aus Dunkelheit und Schatten gestrickt‹ zu sein.«
»Ist Dunkelheit und Schatten nicht dasselbe?«, fragte ich.
Er bewegte dramatisch die Augenbrauen. »Man könnte es meinen, aber dem ist nicht so. Schatten impliziert die Anwesenheit von Licht. Ich bin nicht ausschließlich böse, musst du wissen. Teile von mir sind gut. Manche Teile von mir sind sogar vortrefflich.«
Hinter seinem Rücken verdrehte Ascanio die Augen.
»Nun gut«, sagte Roman. »Was führt dich hierher?«
»Wir möchten Zugang zur Bibliothek von Alexandria.«
»Ich kann euch helfen. Ich habe Zugang, Rachel.« Roman winkte uns. »Kommt mit.«
Wir folgten ihm eine hohe grau-braune Treppe hinauf. »Bist du oft hier?«, fragte ich.
Er rollte mit den dunklen Augen. »Ich lebe in diesem
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